Tiere in Tschernobyl
‚Im Grunde ist es doch egal. Hauptsache kein Herz aus Blei.‘ (Wie ein Kind)
So fatalistisch diese Einsicht ist, so hübsch ist doch die Pointe, dass die Menschlichkeit siegen wird. Das ist nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit in der Philosophie von Maulgruppe. Bis wir zu oben genannter Erkenntnis gelangen, müssen wir erst einnal durch einen Sturm aus Dreck, Wut und menschlichem Versagen, der unter dem Titel ‚Tiere in Tschernobyl‘ entfacht wird.
Es hat wenig Sinn nachzuzählen, mit dem wievielte Bandprojekt von Jens Rachut wir es hier zu tun haben. Für den Hamburger hat(te) mit Sicherheit jedes einzelne seine Berechtigung. Für den Fan hingegen wird es immer weniger relevant, mit welchem Background Rachut seine Text-Kunst zu Gehör bringt. Musikalische und stilistische Experimente und Entwicklungen in allen Ehren, am Ende zählt, was Rachut uns diesmal zu sagen hat.
Das bekommt mit Maulgruppe einen fast pompösen Rahmen: verlängernder Hall, akustische Space-Gebilde, mechanisch disziplinierte Marschrhythmen. Schlagzeug und Keyboard bringen eine Strenge in die Musik, die man von Rachut nicht unbedingt gewohnt ist. Chaos mit System ist diesmal die Devise.
Die wirklich fetten und dynamischen Gitarrenriffs bauschen den musikalischen Raum ins Übergroße auf, in dem Rachut sich nach bekannter Art stimmlich austoben kann. Er wütet, predigt, speit, schimpft, leidet. Nicht immer ist das so deutlich rezitiert wir im großartigen ‚Jäger‘, das uns eine Anreihung von Stichworten, Platitüden und angeblichen Lebensweisheiten serviert – unbarmherzig und mit einem nicht enden wollenden repetativen Riff, das an die Schmerzgrenze geht.
Auf ‚Tiere in Tschernobyl‘ arbeitet sich Jens Rachut an der Digitalisierung unserer Lebenswelt ab. Deren Auswüchsen begegnet er mit Beklemmung und Sarkasmus: ‚Was ist das für ein Wesen, das wenig kontaktiert?‘ Dazu kommen unbehagliche Themen aus der MeToo-Debatte, Depression, Dekadenz, menschgemachte Katastrophen (siehe Titeltrack) und der allgemeine Verfall der Menschlichkeit. ‚Reden wir über Mensch? Oder kommt es uns so vor? Aus einer anderen Welt geflohen – will es nur pausieren oder sich hier mit der Stumpfheit mischen, um einmal Beherrschung zu verlieren?‘ (Gezeiten)
Die kryptischen Texte sind einmal mehr ein Hörgenuss. Auch wenn man mitunter selbst bei konzentriertem Zuhören schon nach der zweiten Zeile den Faden verloren hat. Deutlich wird sie, die gefühlte Entfremdung und das Bemühen, sich selbst im Geschehen nicht zu verlieren. Rachut entwickelt dafür seine eigene Art des Widerstands: ‚Das System quälen. Die Reichen mit Geld bewerfen, gute Witze nicht weitersagen.‘ (Geschwür)
Aber der Witz bleibt auch ihm im Halse stecken, so scheint es. Rachut fühlt das Gefangensein im System: ‚Ich weiß nicht, wo es hingeh’n soll. Er kommt näher, der Albtraum.‘ (13) Trotz des sachten Optimismus der eingangs zitierten Zeile hinterlässt das Album im Ganzen doch ein Gefühl der Verzweiflung. Die von Maulgruppe angebotene Therapie besteht im Rausbrüllen und Ausrasten. Und in der dringenden Aufforderung, den Arsch hochzukriegen:
‚Es ist nicht ausgedacht! Das gibt es wirklich! Nicht nur in einem Film. Kommt raus aus euren Löchern, weg vom Bildschirm, Handy-Film. Der Himmel, der Himmel. Wald, die Tiere haben auch Bilder.‘ (Gezeiten)