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Steve Rothery über Geister und glorifizierte Karaoke


Knapp 60.000 Britische Pfund kamen bis Ende Januar 2014 über das Crowdfunding-Portal Kickstarter zusammen, als Steve Rothery dort die Kampagne für die Finanzierung des Projektes startete. Ein klarer Beweis für den Erfolg des Musikers und seine treue Fanbase. Die Geschichte von The Ghosts Of Pripyat beginnt aber schon früher. Viel früher.

„Dieses Album war lange im Entstehen. Ich hatte 1985 zu Zeiten von ‚Misplaced Childhood‘ bereits das Angebot für ein Solo-Album erhalten“, erinnert sich Steve Rothery für uns. „Während wir dann 1994 ‚Brave‘ aufnahmen, hat mir Miles Copeland angeboten, für sein Label ein Instrumentalalbum aufzunehmen. Ich habe dann aber doch statt dessen das erste ‚Wishing Tree‘ Album realisiert. 20 Jahre später wurde ich eingeladen, im Oktober 2013 auf dem Plovdiv Guitar Festival in Bulgarien aufzutreten. Ich musste mir also überlegen, was ich dort spielen sollte. Ich schrieb daher einiges an Material, um es dort spielen zu können. Ich traf mich mit meinem guten Freund Dave Foster, der auch Gitarre spielt, und wir sammelten gemeinsam ein paar grundlegende Ideen für Songs.“

Nach dem Festival setzte sich der Gitarrist noch einmal an die Ideen und entwickelte sie mit Hilfe des Keyboarders Riccardo Romano weiter, fügte neue Segmente hinzu. Sowohl Dave Foster als auch Riccardo Romano sind, genau wie der Bassist Yatim Halimi und Schlagzeuger Leon Parr, Mitglieder der Steve Rothery Band und damit gute Freunde des Musikers. Die Songs wuchsen und wuchsen. „The Ghosts Of Pripyat“ ist ein rein instrumentales Album geworden, das den Schwerpunkt natürlich auf das wunderbare Gitarrenspiel des Engländers legt. Es handelt sich nicht um ein durchgängiges Konzeptalbum, die Songs sollen nach Rotherys Aussage vielmehr alle für sich stehen und kleine Soundtracks imaginärer Filme darstellen.

„Mit so etwas hatte ich ja schon Erfahrung“

, sagt der Musiker über die Idee, quasi noch einmal Filmmusik zu schreiben. Vor einigen Jahren lieferte Rothery den Soundtrack zu einer preisgekrönten amerikanischen Fernsehdokumentation.

Steve_Rothery_0.jpg „Der Titeltrack bezieht sich natürlich auf Prypjat (deutsche Schreibweise), die heutige Geisterstadt in der Ukraine. Die Stadt erlangte im April 1986 traurige Berühmtheit durch die Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl, als die knapp 50.000 Einwohner, überwiegend Arbeiter des Kraftwerks und deren Familien, aufgrund der radioaktiven Strahlung komplett evakuiert werden mussten. Prypjat steht bis heute leer und verfällt langsam. Rothery berichtet uns auf Nachfrage, wie er auf dieses Thema gekommen ist und warum das Album nach der Geisterstadt benannt ist:

„Eine meiner Ideen für das Plovdiv Festival, die ich dann später aber nicht weiter verfolgt habe, war ein Song, der von einem verwunschenen Kinderkarussell handeln sollte. Zur Inspiration suchte ich im Internet nach Fotos solcher alten Karussells und entdeckte Bilder verschiedener verlassener aufgegebener Vergnügungsparks in ganz Europa. Dann fand ich dieses ikonische Bild eines verlassenen Jahrmarkts in Prypjat. Ich las viel über die Stadt und rief mir das tragische Unglück von Tschernobyl zurück ins Gedächtnis. Mir wurde klar, dass ‚The Ghosts Of Pripyat‘ ein starkes Thema für einen Song und auch ein guter Albumtitel sein würde.“

Rothery recherchierte weiter. Seine nächste Lektüre war das Buch „Would You Stay?“ des amerikanischen Fotojournalisten Michael Forster Rothbart, das sich mit dem früheren und jetzigen Leben der Stadtbewohner beschäftigt und tiefe Einblicke sowohl in die Stadt als auch in persönliche Schicksale gewährt.

„Ich habe letztes Jahr in der Ukraine in Kiew ein Konzert gespielt und hatte vor, in dem Rahmen auch Prypjat zu besuchen, was ich aber aus verschiedenen Gründen verschieben musste. Ich war schon immer gegen Kernenergie, und das Lesen des Buches „Would You Stay?“, in dem es auch um die Katastrophe in Japan geht, hat mich in dieser Meinung noch weiter bestärkt!“

Steve_Rothery_1.jpg „Das neue Album ist rein instrumental. Aber das war nicht immer so geplant, wie Rothery auf Nachfrage erklärt:

„Ich hatte zuerst vor, die Songs ganz konventionell aufzunehmen mit Texten und Gesang. Aber dann sah ich Ende 2013 Andy Latimer von Camel in London, wie er das instrumentale ‚Snow Goose‘ Album spielte, und da habe ich mich anders entschieden.“

Nachdem die kreativen Entscheidungen für das Album getroffen waren, ging es an die Aufnahmen, welche insgesamt etwa vier Monate gedauert haben. Die meisten Background-Spuren wurden in „The Racket Club“ aufgenommen, dem Tonstudio von Marillion. Rothery nahm seine Gitarre im eigenen Heimstudio auf, während Dave Foster (Gitarre) und Riccardo Romano (Keyboards) ihre jeweiligen Parts in ihren eigenen Heimstudios ergänzten.

„Danach sind wir dann in die Real World Studios gegangen“

, berichtet Rothery über den weiteren Prozess.

„Dort haben wir das Titelstück und den Song ‚Summer’s End‘ alle zusammen direkt live eingespielt. Außerdem haben wir dort die Musikvideos für das Album gedreht und eine Dokumentation, die auf der Special Edition zu finden sein wird. Mike Hunter hat das Album dann im Racket Club Studio abgemischt. Ich habe die Platte selbst produziert.“

Die komplette Produktion des Albums wurde über Kickstarter und Crowdfunding finanziert. Steve Rothery erklärt seine Beweggründe für diesen Schritt:

„Ich wollte eine tolle Platte produzieren und aufnehmen, da brauchte ich ein gewisses Budget, um mein Studio aufzurüsten und Mike Hunter bezahlen zu können, der die Backing-Tracks aufgenommen und das Album abgemischt hat.“

Mit Crowdfunding konnte der Musiker schon Ende der 90er Jahre Erfahrungen sammeln. 1997 hatten Fans – ohne das Zutun der Band – rund 60.000 US-Dollar für die nordamerikanische Tour von Marillion via Crowdfunding gespendet. Seitdem hat Marillion mehrere Alben über diese Methode (mit)finanziert.

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„Ich habe mich für Kickstarter entschieden, weil die einfach das größte und beste Profil der ganzen Crowdfunder haben“

, erklärt Rothery unserem Magazin.

„Die Kampagne hat schließlich fast das Vierfache des ursprünglichen Zieles eingebracht. Mit diesem Geld konnte ich die Special Edition produzieren. Außerdem hat Lasse Hoile die Artwork für die Platte gemacht. Ferner haben wir das Videomaterial mit diesem Geld gedreht.“

Ist „The Ghosts Of Pripyat“ jetzt ein Album nur für die Fans geworden, weil diese es finanziert haben?

„Nein, überhaupt nicht“

, antwortet Steve Rothery auf unsere Frage.

„Aber durch die Fans habe ich die Gelegenheit bekommen, meiner Vision zu folgen. Es hat viel geholfen, dass die Leute die Entwürfe und Vorab-Versionen der Songs schon gehört hatten, weil ich einiges davon ja auf dem Plovdiv-Festival gespielt hatte. Sie wussten, in welche Richtung ich mit diesem Album gehen wollte.“

Ja, ein Teil der Songs war den Fans schon bekannt. Nicht nur auf dem Plovdiv-Festival, sondern letztes Jahr auch in Rom wurden diverse Songs des Albums bereits live gespielt und waren auch auf dem „Live In Rome“-Album der Steve Rothery Band zu hören. Aber nicht nur die Fans halfen bei der Entstehung des Projektes – Steve Rothery holte sich auch illustre Gäste ins Studio: So gibt es Gastauftritte von sowohl Steve Hackett (ex Genesis) als auch Steven Wilson (Porcupine Tree) zu hören.

„Beide sind gute Freunde von mir“, berichtet der Engländer über die Zusammenarbeit der drei Steves. „Ich hatte ja auf Steve Hacketts Album ‚Genesis Revisited 2′ mitgewirkt und auch live auf einigen seiner Konzerte gespielt, da hat er jetzt diesen Gefallen erwidert und für mich auf zwei Titeln mitgespielt. Ich habe Steven Wilson gefragt, ob er mitmachen würde, und er hat zugesgt und großartige Arbeit abgeliefert. Es hat viel Spaß gemacht, das alles zusammen zu mischen, und ich bin gespannt, wie schnell die Leute herausfinden werden, wer da in welchem Songteil welche Gitarre gespielt hat.“

Rothery gab den beiden Gitarristen keine festen Anweisungen, sondern ließ sie zu den vorgegebenen Background-Tracks improvisieren.

„Ich habe lediglich Steve Hacketts Solo für den Song ‚Morpheus‘ in zwei Teile gesplittet.“

Rothery hat viele der Stücke des Albums ja schon live gespielt. Möchte er dennoch noch einmal damit touren?

„Sehr gerne“

, verrät der sympathische Musiker.

„Ich werde diesen Frühjahr auf den beiden jährlichen Marillion Conventions in Großbritannien und den Niederlanden auftreten, aber ich würde sehr gerne noch weitere Shows spielen im Lauf des Jahres, wenn das irgendwie möglich ist.“

Hoffen wir also, das „Ghosts Of Pripyat“-Material demnächst (noch einmal) live auf der Bühne hören zu können.

Steve_Rothery_3.jpg „Zum Schluß wollten wir von Steve Rothery wissen, wie er die aktuelle Entwicklung des Musicbusiness sieht und ob er der Meinung ist, dass Musik bzw. Rock heute einen anderen Stellenwert einnimmt als noch vor 20 oder 30 Jahren:

„Ich denke, die meiste Musik, die man heute in den Mainstreammedien zu hören bekommt, ist sehr generisch und nicht mehr wirklich originell. Songwriter und Komponisten interessanter Musik werden nicht mehr so geschätzt, wie das früher einmal der Fall war. Das liegt teilweise daran, dass die Plattenfirmen nicht mehr so viel in junge Talente investieren. Außerdem läuft im Radio viel mehr Pop- und Dance-Musik wie früher. Die meiste Musik, die man heute im Fernsehen erleben kann, scheint aus irgendwelchen Talent- und Castingshows zu kommen. In meinen Augen ist das nichts anderes als glorifiziete Karaoke. Ich glaube, dass Musik in unserer Gesellschaft heute nicht mehr die Wertschätzung erfährt, die sie früher einmal bekommen hat.“

Wahre Worte des Engländers. Da ist es umso schöner, dass es noch Musiker wie Steve Rothery gibt, die konsequent ihre Visionen umsetzen und spannende Alben veröffentlichen wie beispielsweise „The Ghosts Of Pripyat“. Und wie stehen die Chancen auf ein neues Marillion Album?

„Na ja, wir sind derzeit dabei, das neue Album zu schreiben“, erklärt der Gitarrist. Aber es dauert alles ziemlich lange bei uns, von daher wird das wohl vor 2016 nichts werden.“

Steve Rothery hat genug zu tun. Neben dem Songwriting für Marillion und den Vorbereitungen für Live-Auftritte hat er noch ein Buch geschrieben bzw. zusammengestellt, das im Frühjahr erhältlich sein wird.

„Das Buch wird ‚Postcards From The Road‘ heißen. Ich habe die letzten 36 Jahre meines Lebens mit Marillion mit Fotos dokumentiert.“

Parallel zum Fotobuch wird es auch eine App für Smartphones geben, mit der verschiedenen der Bilder angesehen werden können. Nähere Infos hierzu gibt es auf der Webseite des Künstlers.

Wir bedanken uns im Namen unserer Leser für dieses interessante Gespräch und wünschen Steve Rothery für die Zukunft alles Gute. Es lohnt sich auf alle Fälle, die weiteren Veröffentlichungen dieses interessanten Musikers genau zu verfolgen. Und sich auch 2016 zu freuen.

Interview, Übersetzung und Fotos: Michael Buch

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