Running Wild – Die Remasters (1)
Die bisherigen Rereleases der Albumklassiker des Noise-Labels (Celtic Frost, Kreator, Voivod) konnten allesamt höchsten Ansprüchen genügen. Mit dem Noise-Backkatalog von Running Wild gibt es nun das bislang umfangreichste Projekt der Reihe. Running Wild waren nämlich nicht nur eines der ersten Signings des Kultlabels, sondern hielten ihm auch deutlich länger die Treue als die meisten Labelkollegen. So erschienen zwischen 1984 und 1995 insgesamt neun Studioalben, eine Livescheibe, ein Sampler mit Neueinspielungen und diverse Singles. Besagte Studioalben werden also nun mit zahlreichen Bonustracks wieder aufgelegt, nachdem die Scheiben lange Jahre nur noch gebraucht und zu Fantasiepreisen erhältlich waren.
Den Anfang macht das Debütalbum „Gates To Purgatory“. Dank des ungeschliffenen Sounds, der mit satanischer Symbolik spielenden Texte und des noch recht tiefen Gesanges von Bandboss „Rock’n’Rolf“ Kasparek wurde die Band damals gar in die Black Metal-Schublade gesteckt. Mit Venom und Co. hat „Gates To Purgatory“ aber nur wenig zu tun – mit dem hymnischen, von zweistimmigen Leads getragenen „Piraten-Metal“, den man später mit der Band assoziieren sollte, aber auch nur noch nicht. Stattdessen gibt es hier klassischen Teutonen-Metal mit simplem Riffing und Vorstößen ins junge Speed Metal-Genre, wie ihn auch die jungen Labelkollegen Grave Digger und Sinner oder Avenger (die späteren Rage) spielten. Und der macht außerordentlich viel Spaß. Vom speedigen Opener ‚Victim Of States Power‘ bis zum abschließenden Mitgröhl-Heuler ‚Prisoner Of Our Time‘ (das die Band noch heute spielt) bleibt keine Zeit zum Luftholen, so vehement kommt die Energie der Band durch die Boxen. Dabei wird’s in ‚Preacher‘ auch einmal regelrecht doomig, und ‚Genghis Khan‘ nimmt die komplexeren Arrangements der späteren Jahre bereits vorweg.
Aber was den Fan zum Sabbern bringt, ist die mit knapp 35 Minuten sogar länger als das reguläre Album ausgefallene Bonus-Sektion. Hier gibt’s nämlich erst einmal die CD-Premiere der ersten offiziell veröffentlichten Running Wild-Stücke: die Urversionen von ‚Adrian‘ und ‚Chains And Leather‘, die 1983 auf dem „Rock From Hell“-Sampler erschienen waren. Natürlich ist der Rumpelsound der beiden Stücke für moderne Ohren reichlich eigenwillig anzuhören – für schon 1982 aufgenommene Demo-Songs klingen die Teile aber echt vernünftig – und natürlich absolut kultig. Auch die beiden Songs vom „Death Metal“-Sampler sind vertreten, und die B-Seiten der „Victim Of States Power“-EP auch. Und ja, ‚Walpurgis Night‘ hat diesmal ein Fade-Out spendiert bekommen. Bei der letzten CD-Veröffentlichung brach der Song berüchtigterweise einfach am Ende des Mastertapes unvermittelt und mitten in der Musik ab. Die von der „First Years Of Piracy“ stammenden 1991er Neuaufnahmen von ‚Soldiers Of Hell‘ und ‚Prisoner Of Our Time‘ runden das Package schön ab.
Das Zweitwerk „Branded And Exiled“ litt damals unter einer etwas dumpfen und kraftlosen Produktion, die auch das Remastering nicht komplett ausbügeln kann. Allerdings ollte nicht verschwegen werden, daß die Produktion nur einer der Gründe ist, warum „Branded And Exiled“ nicht mit dem Vorgänger mithalten kann. Neben Krachern wie dem Titelsong, ‚Mordor‘, ‚Fight The Oppression‘ und der (nicht letzten) Neuaufnahme von ‚Chains And Leather‘ gibt es nämlich auch ein paar Füller, namentlich ‚Realm Of Shades‘, ‚Evil Spirit‘ und ‚Marching To Die‘, die einfach nicht das Niveau der Hits halten können. Fairerweise muss man Kasparek auch zugute halten, daß das Songwriting, welches auf dem Vorgänger noch 50/50 mit Gerhard ‚Preacher‘ Warnecke aufgeteilt war, nach dessen Ausstieg fast komplett an ihm hängenblieb. Nun, scheiben wir es aufs „Second Album Syndrome“. Als Bonustracks gibt’s wieder drei Stücke von der „First Years Of Piracy“ und 2003er Neuaufnahmen von ‚Branded And Exiled‘ und ‚Mordor‘, wobei letztere aber unüberhörbar unter Mitwirkung von Angelo Sasso entstanden sind und im Direktvergleich zwar transparenter, aber auch lascher klingen.
Das Durchbruchsalbum der Band, „Under Jolly Roger“, kommt sogar als schicke Doppel-CD – obwohl das Material auch problemlos auf einer CD Platz gefunden hätte. Schön sieht’s trotzdem aus. In der Fachpresse wurde das Album damals einhellig verrissen, die Fans ließen sich davon freilich nicht beeindrucken. In der Tat schwammen sich Running Wild mit „Under Jolly Roger“ stilistisch frei – im wahrsten Sinn des Wortes. Denn natürlich begann mit dem Artwork und den Lyrics des Titelsongs auch das Piraten-Image der Band, welches für manche einfach nur albern war, die Band aber klar von der Konkurrenz abhob und ihnen eine visuelle Identität gab – etwas, was bereits bei Iron Maiden (‚Eddie) und Helloween (die Kürbisse) funktioniert hatte. Aber auch musikalisch hatte die Band eine ordentliche Schippe draufgelegt. Gitarrist Majk Moti, der während der Aufnahmen zum Vorgänger zur Band gestoßen war und nur ein paar Soli beigesteuert hatte, erwies sich zwar auch nicht als der große Songwriter, seine im Vergleich zum Preacher deutlich melodischere Gitarrenarbeit entpuppte sich aber als kongeniales Gegenstück zu Rolfs eigenem Spiel. Auch die Produktion von Dirk Steffens, der bereits Accepts „Breaker“ betreut hatte und selbst als Gitarrist von Birth Control aktiv gewesen war, stellte einen großen Schritt vorwärts dar.
Ja, und die Songs waren natürlich auch durchweg klasse. Zwar immer noch der ursprünglichen Ausrichtung folgend, aber melodischer und abwechslungsreicher arrangiert. Zum Titelsong, wahrscheinlich DEM Running Wild-Klassiker, gesellen sich mit ‚Raw Ride‘, ‚Raise Your Fist‘, ‚Beggar’s Night‘, ‚Diamonds Of The Black Chest‘ und ‚Merciless Game‘ noch fünf weitere, gleichwertige zukünftige Live-Hits voller geiler Melodien, fetter Riffs und origineller Gitarrenarbeit. Selbst die etwas schwächeren ‚War In The Gutter‘ und ‚Land Of Ice‘ sind keinesfalls Füller, sondern einfach nur nicht ganz so gut wie der Rest der Scheibe ausgefallen. Auf der Bonus Disc gibt’s wieder vier Neuversionen von „First Years Of Piracy“, die 1992er Version von ‚Beggar’s Night‘ und das 2003 fertigestellte, während der Aufnahmesessions zu „Under Jolly Roger“ begonnene ‚Apocalyptic Horseman‘ (wieder mit Sasso-Drums). Die beide angeblichen „2003 Re-Recordings“ von ‚Raise Your Fist‘ und dem Titelsong sind aber unüberhörbar KEINE Neueinspielungen, sondern einfach die bekannten Albumversionen, wenn auch klanglich etwas dumpfer. Möglicherweise handelt es sich um Rough-Mixe oder Pre-Masters – aber eben definitiv nicht um Neueinspielungen.
Der Nachfolger „Port Royal“ hatte den Vorteil, nach den Erfolgen von „Under Jolly Roger“ und dem leider nicht wiederveröffentlichten Livealbum „Ready For Boarding“ ein vernünftiges Aufnahmebudget zu haben. Ebenfalls im Gepäck: die neue, auf dem Livealbum bereits vorgestellte Rhythmusgruppe Jens Becker (bass) und Stefan Schwarzmann (drums), die im Gegensatz zu ihren Vorgängern deutlich filigraner und variabler agierte, ohne an Druck zu verlieren. Dazu kommt das deutlich melodischere und (auch wenn das damals niemand so nannte) progressivere Songwriting, das nicht nur ein Epos wie den Albumcloser ‚Calico Jack‘ mit Breaks, Rhythmus- und Taktwechseln verfeinerte, sondern auch typische Running Wild-Mitgröhler wie ‚Raging Fire‘, ‚Into The Arena‘ und ‚Warchild‘. Mit ‚Uaschitschun‘ und ‚Conquistadores‘ zeigten sich Running Wild auch von einer bis dato ungewohnt melodischen, ja, fast kommerziellen Seite. Dabei kam Rolfs stark verbesserter Gesang besonders zur Geltung – nach Stimmproblemen auf der vorangegangenen Tour hatte er sich Hilfe bei einem Gesangslehrer gesucht und einen im Vergleich zum Vorgänger enorm beeindruckenden Fortschritt gemacht.
Doch was „Port Royal“ damals wie heute das I-Tüpfelchen aufsetzt, ist das dominante, hochmelodische und originelle Basspiel von Jens Becker, der nicht nur im Instrumental ‚Final Gates‘ und im Solo-Intro von ‚Conquistadores‘ bewies, das er locker auf Steve Harris-Niveau spielte. Auf „Port Royal“ hatten Running Wild schlicht ihr perfektes Line-Up gefunden – es sollte freilich beim nächsten Album schon wieder Geschichte sein. Als Bonustracks gibt es hier eine 1992er Version von ‚Uaschitschun‘ und wieder zwei als Neueinspielungen ausgegebene Tracks, die aber unüberhörbar identisch mit den Albumtakes sind. Das Album gehört natürlich trotzdem in jede ernstzunehmende Metal-Sammlung.
Selbst der Abgang von Drummer Stefan Schwarzmann konnte Running Wild Ende der Achtziger nicht stoppen. Sein Nachfolger, der Brite Iain Finlay, agierte zwar deutlich straighter und weniger verspielt, doch das fünfte Running Wild-Album „Death Or Glory“ steht seinem Vorgänger dennoch in nichts nach, wie schon der Vollgas-Opener ‚Riding The Storm‘ klarmacht. Noch mehr als auf „Port Royal“ setzte die Band auf eingängige Hooklines, was dem Album prompt Platz 45 in den deutschen LP-Verkaufscharts einbrachte und mit ‚Bad To The Bone‘ sogar erstmals MTV-Airplay. Zwar wurden hier erstmals kritische Stimmen laut, die bemängelten, daß das Album stilistisch ziemlich exakt der Linie des Vorgängers entsprach. Das war objektiv nicht von der Hand zu weisen, doch dank erstklassiger Metal-Ware wie ‚Evilution‘, ‚Marooned‘, ‚Battle Of Waterloo‘ oder ‚Running Blood‘ störte sich mit Recht kaum ein Running Wild-Fan daran. Auch „Death Or Glory“ kommt als Doppel-CD. Leider schon wieder mit zwei unsinnigen, als Neueinspielungen ausgewiesenen Doubletten, aber auch mit der kompletten 1990er EP „Wild Animal“, die neben einer erneuten Neuaufnahme von ‚Chains And Leather‘ noch drei absolute Kracher enthält: ‚Wild Animal‘, ‚Tear Down The Walls‘ und vor allem der Ohrwurm ‚Störtebeker‘ gehören allesamt zu Running Wilds Glanzstücken.
Die Running Wild-Re-Issue-Kampagne ist ganz klar eine willkommenen und auch weitestgehend gelungene Aktion geworden. Alle Alben kommen als Digipacks in mattem Finish und enthalten Linernotes, bei denen Rolf Kasparek einen guten Einblick in die Umstände der jeweiligen Albumproduktionen gibt. Das erneute Fehlen jeglicher Texte ist ziemlich ärgerlich, doch dafür gibt’s bei jedem Album ein Fotos aus Rolfs Archiv, Bandportraits, Backstagepässe, Tickets, Plakate, Magazincover und so weiter. Und natürlich wurde auch die Schatzkarte vom „Under Jolly Roger“-Innencover reproduziert.
Auch musikalisch gibt es mit Ausnahme der unnötigen „2003 Re-Recordings“, die eben deutlich hörbar keine sind, nichts zu mäkeln. Das Remastering ist ordentlich – audiophile Qualität ist speziell bei den ersten drei Scheiben aber natürlich aufgrund des Ausgangsmaterials nicht zu erwarten. Zwar gibt es kein komplett unveröffentlichtes Material zu hören, doch werden hier tatsächlich fast ALLE zeitgenösischen Bonustracks von Singles, Samplern etc. versammelt – mit einer einzigen Ausnahme: wo, bitteschön, ist die „First Years Of Piracy“-Version von ‚Walpurgis Night‘ abgeblieben? Das macht im Zusammenhang mit den „2003 Re-Recordings“ den Eindruck, als habe der für die Serie verantwortliche Product Manager Jon Richards (der auch für die katastrophalen Helloween-Remasters 2006 verantwortlich war) einmal mehr eher schlampig recherchiert. Dennoch, gerade für jüngere Hörer ist es natürlich schön, die Klassiker endlich wieder ganz regulär kaufen zu können. Die nächsten vier Alben erscheinen übrigens schon Ende diesen Monats – watch this space!
Abschließend noch unsere Notenvergabe:
Gates To Purgatory: 2+
Branded And Exiled: 2-
Under Jolly Roger: 2+
Port Royal: 1
Death Or Glory: 1-