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No Anchor

Wer dachte, bei Chris Wollard hätte sich mit seinem Soloprojekt die Altersmilde durchgesetzt, hat sich gewaltig geirrt. Freilich, als er Anfang 2009 das erste Album unter dem Namen Chris Wollard & The Ship Thieves veröffentlichte, ging es sehr bedächtig und kontemplativ zu. Eben das Gegenteil zu dem, was er gängigerweise mit Hot Water Music praktizierte. In losen Akkustik-Sessions mit verschiedenen Musikerkollegen und nächtlichen Spontanaufnahmen in seiner Küche ließ Wollard seiner ganz persönlichen Muße freien Lauf und schuf ein wundervolles Ideen-Potpourri in Lo-Fi.

Dass es so besinnlich nicht bleiben würde, ließen schon die Konzerte der (bisher einzigen) Deutschland-Tour Ende 2009 erahnen. Mit dem zweiten, wesentlich rockigeren Album ‚Canyons‘ (2012) wurde das zur Gewissheit und eine neue Bandstruktur offensichtlich. Gitarrist Addison Burns war schon auf der ersten Platte Wollards enger Begleiter; mit Chad Darby und Robert Brown wurden nun auch Bass und Schlagzeug fest besetzt. Auch wenn ‚Canyons‘ schon einen kohärenten Eindruck macht, zeichnen die Songs doch immer noch eine gehörigen Folk-Einfrbung und der Flair von Jam-Sessions aus. Wollard selbst hat es lakonisch beschrieben als ‚Southern punks playing rock’n’roll‘.

Und genau das wird mit Album Nummer drei perfektioniert – es ist zusammengewachsen, was zusammengehört. Inzwischen ist aus dem Solo- ein neues, statthaftes Band-Projekt geworden. Ship Thieves heißt es nun schlicht und mit ihm begeben sich sowohl Wollard als auch seine drei Kumpanen zurück zu ihren Wurzeln. Es juckt ihnen anscheinend zu sehr in den Fingern und in den Beinen. Was Wollard angeht, ist ‚No Anchor‘ alles andere als ein billiger Hot Water Music-Ersatz. Nein, Ship Thieves haben ihre eigene Seele. Auf den ersten Blick ist ‚No Anchor‘ einfach ein gutes, sehr solides Punkrock-Album. Aber mit jedem weiteren Hören lässt es einen weiter in seine Tiefen vordringen, werden die Feinheiten klarer. Souther Rock-Stücke mit einem Hang zum Bluesigen führen die Mission von ‚Canyons‘ weiter (‚Rotations‘, ‚Long Way Down‘, ‚Dark Days‘). Wütende Shouter rekapitulieren die lange Punkrock-Tradition von Ship Thieves-Hometown Gainesville (‚Something Is Missing‘, ‚Ruts‘). Und dann wieder singt Wollard so unendlich lässig das eingängige ‚Born Into This‘ (Anspieltipp!). Die Platte durchziehen mitreißende und unverschnörkelte Riffs, der Sound ist organisch und sitzt und alles rollt ganz wunderbar.

Die Herren Ship Thieves haben sich hörbar von allem Ballast befreit und betreiben ihr Projekt ohne jeden Erfolgsdruck oder jegliche Szeneattitüde. Aus Spaß am gemeinsamen Mucken eben. Das hat den unangenehmen Nebeneffekt, dass sie in Europa kaum promoted werden, geschweige denn hier touren. Da ist es an den hiesigen Fans, ‚No Anchor‘ durch Weiterempfehlungen den verdienten Hörerkreis zu verschaffen. Denn die Platte liefert einfach eine glatt überzeugende Definition von Rock’n’Roll.

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