Kategorie: reviewlive

Wann Wenn Nicht Jetzt (Live)

Selig Frontmann Jan Plewka ist glühender Verehrer von Rio Reiser und seinen Scherben. Unter der Regie von Tom Stromberg und der Begleitung der Schwarz Roten Heilsarmee spielte er 15 Jahre eine Reminiszenz an die viel zu früh verstorbene Linken-Ikone.

Nach über 200 Vorstellungen war es 2019 an der Zeit für ein neues Programm, und so machte sich die eingespielte Besetzung an einen neuen Abend. Plewka und seine Männer sind dabei keine Coverband die nur nachspielt. Sie machen sich die Songs zu eigen und geben ihnen ein komplett neues Gewand. Dabei stehen sie nicht bewegungslos auf der Bühne – „Wann Wenn Nicht Jetzt“ ist eine inszenierte Aufführung. Wenige Wochen nach dem 25. Todestag Reisers gibt es nun diese Hommage auf DVD und Tonträger.

Zu Beginn schleicht Plewka als Ausgrabungsforscher verkleidet durch die Reihen des Publikums und murmelt leise vor sich hin, während die Musiker als Waldschrate verkleidet im Hintergrund spielen. Auf der Bühne angekommen beginnt das Konzert mit dem Satz „Alles was ich fand, waren Ton, Steine und Scherben“. In dieser Sekunde setzt eine kraftvolle Version von „Menschenfresser“ ein. Nahtlos und ähnlich druckvoll geht es mit „Jenseits Von Eden“ weiter.

Leise wird es bei „Ich Werde Dich Lieben“: Jan und Marco spielen die Nummer komplett unverstärkt nur mit Gitarre und Gesang am Bühnenrand. „Macht Kaputt Was Euch Kaputt Macht“ erfährt ein textliches Update und wird durch Begriffe wie „AFD“ und „Tierversuche“ ergänzt – den Scherben hätte es gefallen.  

Ein echter Hingucker ist „Mein Name Ist Mensch“. Die Herren kommen in hautengen Latex-Glitzer-Anzügen und riesigen Zyklopen-Augen auf die Bühne und singen die Nummer a cappella.

Wer kennt es nicht: „Sieben Uhr aufstehen, Kaffee trinken, zur Arbeit fahren, freundlich sein, den Chef grüßen“, um sich dann zu fragen „Warum Geht Es Mir So Dreckig“? Reiser konnte neben wunderschöner Lyric eben auch Krawall und die einfache Sprache musikalisch zum Klingen bringen.

Nur auf Klavier und Gesang reduziert wird danach „Ich Bin Müde“ gespielt.

Beim „Shit Hit“ hat Plewka Pause und die Heilsarmee kommt mit Altersmasken, die sie mit 80 Jahren darstellen, an den Bühnenrand. Höchstamüsant gibt es im Chorgesang ein Loblied auf die Droge Haschisch („das nasch isch“).

Kurz danach ist mit „Wir Müssen Hier Raus“ und einer „Mensch“-Version – nun in voller Besetzung – Schluss und die Truppe verlässt die Bühne. Mit einer wilden Fassung von „Wann?“ als Zugabe endet diese sehr unterhaltsame musikalische Darbietung und die Band wird mit Standing Ovations entlassen.

Insgesamt ist „Wann Wenn Nicht Jetzt“ rockiger als der erste Rio-Abend. Während dort die deutlich bekannteren und oftmals romantischeren Titel auf dem Zettel standen, sind es jetzt meist die etwas unbekannteren und politischeren aus der zweiten Reihe. So gelingt der Truppe ein völlig neues und eigenständiges Programm und eben kein Abklatsch des ersten.

Wer bislang nur einen der beiden Sänger kannte, wird den anderen auf diesem Weg lieben lernen.

 

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Birthday Slams Live

Ein Livealbum einer Band, die man nur versteht, wenn man die Kraft dieser Combo schon einmal live erlebt hat – kann das gut gehen? Mit dem Doppelalbum „Birthday Slams Live“ (Solitary Man Records) liegt nun die erste Live-Aufnahme in der Karriere DONOTS vor. Die Platte ist ein Geschenk des Quintetts an sich selbst: 2019 feierten die DONOTS ihren 25. Geburtstag. Damit zählen sie schon zu den alten Hasen im Business. Im Anschluss an ihre reguläre Tour zum Album „Lauter als Bomben“ (2018) haben die DONOTS noch einen Schwung Geburtstag-Gigs mit ihren bis dahin größten Headliner-Konzerten angehängt – inklusive krönendem Abschluss in ihrer Heimat Ibbenbüren.

Wer die Jungs schon einmal live gesehen hat weiß, dass sich ihre Konzerte in erster Linie durch einen extrem heftigen Austausch zwischen Band und Publikum auszeichnen. Kein Körper – sowohl vor als auch auf der Bühne – bleibt unbewegt und der Schweiß fließt in Strömen. Perfektion steht für alle Beteiligten deutlich hinter Spaß zurück. Wie soll man das auf eine CD bekommen?

Zunächst einmal nehmen die DONOTS alle „Birthday Slams“ mit aufs Album, um die Höhepunkte der Höhepunkte herauszupicken und um mögliche Verspieler oder technische Ausfälle zu kompensieren.

Los geht es mit dem bewährten Intro, bei dem das Publikum lauthals die Band fordert. Das geht dann nahtlos in die Kampfansage „Ich mach nicht mehr mit“ über. Band und Publikum sind ab dem ersten Takt auf 100%. Es folgt Hit auf Hit, knapp die Hälfte der 20 Songs entstammt den letzten beiden deutschsprachigen Alben. Die Pausen dazwischen sind mit Sänger Ingos bekannt launigen Ansagen und reichlich Zuschauerlärm gespickt. Man hört der Band in jeder Sekunde die Freude über die Auftritte an, das Publikum pogt und circlepittet vor dem inneren Auge mit. „Calling“, „Wake the Dogs“ und „Stop the Clocks“ bringen die Zuschauer zum Kochen.

Weil die Band Geburtstag feiert, hat sie sich reichlich Gäste eingeladen: Die Antilopengang verpasst „Kaputt“ eine neue Rap-Strophe, Vom Ritchie (Die Toten Hosen) witzelt, dass „nicht genug Geld für Campino“ vorhanden war und sitzt bei „Superhero“ an den Drums. Turbostaat-Frontmann Jan steht bei „Gegenwindsurfen“ auf den Brettern und Sammy von den Broilers verschönert „Problem kein Problem“.

„Birthday Slams Live“ geht mit den Überhits „Whatever Happened to the 80s“ und natürlich dem Twisted-Sister-Cover „We´re Not Gonna Take it“ auf die Zielgraden. Den Abschluss bildet „So Long“ (leider ohne Frank Turner). Spätestens bei diesem Titel läuft es einem eiskalt den Rücken runter, das Publikum singt minutenlang mit und es entsteht der Eindruck, mittendrin zu stehen. EikeAlexPurgenGuidoIngo  gelingt es wirklich großartig, die Konzert-Atmosphäre rüberzubringen. Mehr Live-zu-Hause geht nicht.

(verfasst von Wolfgang Gouterney)

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Live Aus Der Vergangenheit

Erik Cohen hat während seines Schaffens als Solokünstler in schöner Regelmäßigkeit mittlerweile drei Alben unter das Volk gebracht. Dabei scheint er glatt übersehen zu haben, dass eigentlich die Zweite Platte doch allgemein als die Schwierigste gilt. Aber für „Live Aus Der Vergangenheit“ (RYL NKR Recordings/Rough Trade), hat sich der Sänger etwas ganz Besonderes einfallen lassen: ein Livealbum, das eigentlich keines ist, bzw. ein äußerst spezielles.

Publikumsgesänge, Fanchöre oder Mitklatschparts finden sich auf der Platte keine. Die Aufnahmen entstanden nämlich nicht live mit Publikum, sondern live im Studio. Soll heißen, Erik Cohen hat sich samt Band im Studio verbarrikadiert und die Songs neu eingespielt. Dabei wurden sie ihrer verkopften Instrumentalisierung beraubt und übrig bleiben sollte lediglich die die Live-Essenz und Kraft der Konzerte.

„Live Aus Der Vergangenheit“ wurde mit dem Ziel veröffentlicht, die Live-Werkschau abzubilden, denn außer dem in den Konzerten gefeierten Joachim Witt-Cover „Goldener Reiter“ sind keine neuen oder unveröffentlichten Songs enthalten. Hier und da gibt es ein Aufhorchen, wenn sich die Songs von ihrer Originalform entfernen – etwas Hall hier, ein bisschen Overdub da.

Letztlich bleibt man mit „Live Aus Der Vergangenheit“ etwas unentschieden zurück. Das Engelchen auf der einen Seite freut sich, dass mit der neuen Platte das Sammlerherz bedient wird und eine streng limitierte LP- und CD-Version erscheint. Außerdem ist es eine tolle Ablenkung um abzuwarten, was die im April veröffentlichte Single „Millionenstadt“ für einen Nachfolger bekommen wird. Das Teufelchen hingegen pikst mit seinem Dreizack in das glühende Fanherz und behauptet, die Scheibe ist eigentlich auch nichts anderes als eine Best Of.

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… Und Das Geht So

Nach dem überragenden Erfolg der „Ich Vs. Wir“-Platte und der gleich darauf folgenden EP „Der Süße Duft Der Widersprüchlichkeit“ gönnen sich Kettcar jetzt eine Werkschau. Mit dem Livealbum „…Und Das Geht So“ (Grand Hotel van Cleef) werfen sie einen Blick zurück auf das, was ihnen in den letzten zwei Jahren Tourleben so widerfahren ist. Der Albumtitel ist die vermutlich meist verwendete Songankündigungsphrase bei Kettcar. So verwundert es zunächst, dass ausgerechnet diese in den ersten Songs gar nicht vorkommt, aber danach weiß man, warum die Scheibe so genannt wurde. Leider stört auch genau das ein klein wenig die heavy Rotation der Platte.

Das neue Album bietet im Prinzip eine Setlist der vergangenen Kettcar-Konzerte. Der Opener „Rettung“, dem der Druck der Bläser gleich zu Anfang besonders gut steht, und der das Heldentum des Protagonisten auf eine neue Ebene hebt begeistert den Hörer. Aber bei Kettcar bedeutet der Bläsereinsatz nicht, dass es sich nun nach Ska anhört oder sich die langjährigen Fans gar an Rantanplan-Zeiten erinnert fühlen – Offbeatklänge sucht man hier vergeblich. Vielmehr setzen die Bläser bewusste Akzente, sind aber auch nicht bei allen Songs vertreten. Es gibt kleine Anekdoten, z.B. darüber, warum man politische Lieder („Sommer ‘89“) und Liebeslieder („Balu“) sehr wohl nacheinander spielen kann oder wie „Balkon gegenüber“ nach 18 Jahren nun doch zu einer zweiten Strophe gekommen ist. „Der Tag Wird Kommen“, der einzige Song der Platte der nicht von Kettcar, sondern von Marcus Wiebusch Solo stammt, bekommt in dieser Live-Variante einen zum Spannungsbogen der Geschichte passenden, nahezu apokalyptisch anmutenden Sound spendiert. Gänsehaut pur.

Kettcar haben mit „…Und Das Geht So“ eine Platte geschaffen, die wie ein Polaroid wirkt. Sie zeigt Kettcar 2019, und im Gegensatz zu der allgegenwärtigen digitalen Bilderflut, die irgendwann doch im Äther verschwindet, bleibt das kleine Polaroid am Kühlschrank hängen – neben all den Postkarten, Einkaufszetteln und Einladungen. Weil man sich gerne erinnert. Erinnert an eine Zeit, in der man zuerst nicht mal wusste, ob es gut oder schlecht war, dass Kettcar wiederkommen. Das kleine Polaroid beantwortet diese Frage mit einem Ausrufezeichen.

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United Alive

Na, endlich! Das Livezeugnis von Helloweens großer Familienzusammenführung hat die Fans nun lange genug warten lassen. Erfreulicherweise kann man an dieser Stelle aber vermelden, dass die Herrschaften mit „Untited Alive“ so ziemlich alles richtig gemacht haben und die hohen Erwartungen exakt erfüllen können.

Die Idee, die Ex-Mitglieder Michael Kiske und Kai Hansen „einfach“ ins seit zwölf Jahren stabile aktuelle Band-Line-Up zu integrieren, funktionierte bekanntlich ganz wunderbar. Wenn Andi Deris und die erwähnten Herren Kiske und Hansen sich die Vocals aufteilen, Harmonien singen und ganz generell jede Menge Spaß miteinander zu haben scheinen, überträgt sich das ganz direkt auf den Zuschauer respektive Zuhörer. Gleiches gilt für die Gitarrenfraktion: Weikath, Hansen und Sascha Gerstner harmonieren so unangestrengt, als hätte das alles „schon immer so gehört“. Drumtier Dani Löble und Markus Grosskopf geben dem Ganzen den notwendigen Drive, und speziell „der Mackel“ erweist sich einmal mehr als heimlicher Star der Band: seine Basslinien sind nämlich mit Sicherheit genauso prägnant wie die Gitarrenarbeit.

Und – was für eine Setlist. Zielsicher hat die Band ein echtes Hitfeuerwerk ausgewählt. Es spricht für den Backkatalog der Gruppe, dass jedem Fan mit Sicherheit trotzdem noch zwei Dutzend Songs einfallen werden, die trotz der über zweieinhalbstündigen Laufzeit auch irgendwo noch ins Konzept gepasst hätten. So gibt’s eben die pausenlose Vollbedienung, von der thrashigen Hansen-Ära über die reichlich vertretenen Keeper-Jahre bis zu Stücken aus der Neuzeit ist alles da. Am beeindruckendsten klingen natürlich die Songs, bei denen sich Deris und Kiske die Bälle zuspielen. Kiskes Stimme passt ganz großartig zu Deris-Songs wie ‚Why?‘ oder ‚Forever And One‘, auch der gerne gescholtene Andi Deris zeigt sich durchweg in bestechender Form und singt beispielsweise ‚A Tale That Wasn’t Right‘ so gut wie nie zuvor. Wenn in ‚Pumpkins United‘ und dem Klassiker ‚How Many Tears‘ dann alle drei Leadsänger interagieren, ist das schlicht großes Kino.

Helloween haben mit „United Alive“ also ein ziemlich geiles Livepaket geschnürt, das nicht nur als Andenken an die Tour, sondern auch als Album für sich alleine stehen kann. Die Audio- und Video-Formate sind dabei etwas unterschiedlich ausgefallen, sodass es sich durchaus lohnt, beide Versionen ins Regal zu stellen – oder gleich die schicke Alles-Drin-Earbook-Variante. Die CD enthält das komplette 2017er Konzert aus Madrid und eine Bonus-Disc mit vier weiteren Stücken, die visuelle Aufarbeitung springt zwischen der Hallenshow in Madrid, der Sportarena in Sao Paolo und der Open-Air-Kulisse von Wacken hin und her. So bekommt man trotzdem effektiv jeden Song, der während der Tour auf der Setlist stand, auch auf dem Mitschnitt geboten. Kurz: Helloween haben nicht nur der Tour, sondern auch sich selbst hiermit ein Denkmal gesetzt.

https://www.helloween.org/

https://www.nuclearblast.de/de/

40 Tours Around The Sun

Nach so ziemlich jeder Toto-Tour folgt ein Livealbum, das sind wir mittlerweile gewohnt. Da sich die Herrschaften um Steve Lukather aber auch auf jeder Tour ordentlich was einfallen lassen und nicht, wie viele Zeitgenossen, einfach Jahr für Jahr das selbe Greatest-Hits-Set abspulen, passt das auch schon. So überschneidet sich die Tracklist vom aktuellen, im mit 18000 Fans gefüllten Ziggodome in Amsterdam aufgezeichneten Mitschnitt „40 Tours Around The Sun“ nur auf vier Positionen vom 2014er „Live In Poland“. ‚Africa‘, ‚Rosanna‘ und ‚Hold The Line‘ sind unumgänglich, und ‚Stop Loving You‘, die vierte Überschneidung, wird heuer sogar als umarrangierte Akustikversion dargebracht, zählt also schon fast nicht mehr.

Keine Sorge, der Backkatalog der Band gibt aber auch für „40 Tours Around The Sun“ noch genügend Hits her. Neben den oben erwähnten Unumgänglichen diesmal beispielsweise ‚I Will Remember‘, ‚Make Believe‘, ‚Georgy Porgy‘ oder ‚Holyanna‘ – letztere beide in Akustikversionen. Amüsanterweise kündigt Lukather ‚Holyanna‘ als „something of a deep cut‘ an, wo der Song doch in Deutschland heute noch zum Standardprogramm der Mainstream-Radiosender gehört und nach den „großen Drei“ wohl der bekannteste Song der Band ist. Deep Cuts gibt’s aber auch so Einige, und die geben auch diesmal wieder die Höhepunkte für Fans. ‚Lovers In The Night‘, ‚Girl Goodbye‘ oder ‚English Eyes‘ hat man ja über die Jahre schon ein paar Mal im Set gefunden, aber spätestens bei Songs wie dem epischen ‚Angela‘ oder ‚Stranger In Town‘ und ‚Lion‘, beide vom kolossal unterschätzten, aber wohl besten (other opinions are available) Toto-Album „Isolation“, geht jedem Plüschrock-Fan das Herz auf. Der absolute Höhepunkt ist aber das instrumentale ‚Desert Theme‘ aus dem göttlichen Soundtrack zu David Lynchs „Dune“, das seit 30 Jahren nicht mehr auf einer Toto-Setlist gestanden hatte – nur das Intro war vor Jahren einmal Teil eines Medleys gewesen. Mit ‚Miss Sun‘ (Boz Scaggs) und ‚Human Nature‘ (Michael Jackson) gibt’s noch zwei Songs, die die Band für Kollegen geschrieben hatte, und mit ‚While My Guitar Gently Weeps‘ auch einen Song von der Coverscheibe „Through The Looking Glass“.

Die Songs sind also allesamt klasse ausgewählt, aber was ist mit der musikalischen Umsetzung? Ich sag’s mal so: ich glaube nicht, dass Toto je ein besseres Line-Up auf die Bühne gebracht haben. Dass seit der Reunion 2008 neben Lukather mit David Paich und Steve Porcaro (beide Keyboards) wieder zwei enorm prägende Ur-Mitglieder auf der Bühne stehen, hat der Band unglaublich gutgetan. Ebenso wie die Entscheidung, den zum Ende hin immer mehr mit stimmlichen Problemen kämpfenden Bobby Kimball damals durch den nach wie vor göttlich klingenden, Ende der Achtziger schon in Totos Diensten stehenden Joseph Williams (Sohn von John, liebe Trivia-Fans) zu ersetzen. Nun die unpopuläre Meinung: auch der 2014 erfolgte Abgang von Drum-Wunder Simon Phillips hat der Band enorm gutgetan. Wo Phillips ab Mitte der 1990er eher die sanften, jazzigen Grooves bevorzugte, bringt speziell der aktuelle Neuzugang und Dave-Grohl-Lookalike Shannon Forrest eine kräftig rockende Note in die Songs, die der Band schlicht und einfach besser zu Gesicht steht. Dazu passt auch Bassist Shem von Schroeck, der noch dazu exzellente Backing Vocals beisteuert. Dass die beiden ihren Vorgängern durchaus das Wasser reichen können, beweisen sie spätestens im Fusion-Instrumental ‚Jake To The Bone‘ – genauso virtuos wie eh und je, nur ein gutes Stück druckvoller. Abgerundet wird die Truppe von Percussion-Legende Lenny Castro, der laut Discogs auf 866 Alben mitgespielt haben soll und Saxofonist/Multiinstrumentalist Warren Ham, der Siebziger-Hardrock-Fans noch als Sänger der Christenrocker Bloodrock bekannt sein dürfte und natürlich! auch hier noch exzellenten Backgroundgesang beisteuert. ZUsammen klingt diese Mannschaft schlicht ehrfurchtgebietend, und Toto schaffen es diesmal auch, die perfekte Balance zwischen ihrer songorientierten Seite und dem Spaß am Rauslassen der musikalischen Wutz zu finden – technische Kabinettstückchen und ausgedehnte Jams werden diesmal eher in die Songs integriert – ‚Rosanna‘ bekommt beispielsweise zum Ende noch eine gut vierminütige Jam spendiert, und Castro darf sich mit Forrest am Ende von ‚Africa‘ solistisch austoben – bevor das Ganze aber selbstverliebt wirkt, kommt die Band immer wieder auf den Kern der Songs zurück. Und über allem schwebt das Flair einer Mannschaftsleistung: obwohl jeder sein Spotlight bekommt, niemand spielt sich dauerhaft in den Vordergrund, und ellenlange Soloeinlagen einzelner Musiker gibt es diesmal auch nicht.

Auch der Sound ist wie gewohnt vom Feinsten, und auch am Bild der DVD-Fassung kann man nichts meckern – das war aber beides zu erwarten, oder. „40 Tours Around The Sun“ zeigt die Band also auf einem unerwarteten, späten Karrierehöhepunkt. Nicht nur für eingefleischte Fans ein perfektes Zeugnis dessen, was großartige Musiker, großartige Songs und eine unüberhörbare Spielfreude an Unterhaltungswert bieten können – und damit auch irgendwie die Messlatte für die Konkurrenz. Wenn nur die kongeniale Coverversion von Weezers ‚Hash Pipe‘ damals schon existiert hätte…

The Italian Job

Es ist kaum zu glauben: „The Italian Job“ ist tatsächlich das erste offizielle und weltweit erhältliche Livealbum der AOR-Kultband FM seit dem Akustik-Dreher „No Electricity Required“. Zwar erschienen ein paar Livemitschnitte auf diversen exklusiv über die Website der Band erhältlichen EPs und sogar DVDs, aber dank der Melodic-Rock-Spezis von Frontiers gibt es nun auch ein FM-Livescheibchen, das jeder Fan ganz konventionell beim Plattendealer seines Vertrauens abgreifen kann.

Mitgeschnitten beim Frontiers-Labelfestival 2018 in Milan erlebt man hier achtzig Minuten lang eine der besten Bands des Genres in Bestform, sowohl auf DVD als auch auf CD. Letztere wurde um ein paar Ansagen und Publikumsspielchen gekürzt, enthält aber die selben Songs. Nun hält sich ja hartnäckig das Vorurteil, das AOR auf der Bühne nur bedingt funktioniert. In der Tat, viele Genre-Bands, darunter auch einige Größen, haben ein echtes Problem damit, die perfekt produzierten Songs live auf die Bühne zu bringen – man bekommt oft entweder abgespeckte Versionen zu hören, die im schlimmsten Fall ihre Wirkung verlieren oder, alternativ, perfekt reproduzierte Songs, die keinerlei Livestimmung mehr transportieren. Angeführt von Goldstimme Steve Overland führen FM mit „The Italian Job“ aber vor, dass es durchaus möglich ist, die Originalversionen mit allen Details zu performen und trotzdem druckvoll zu grooven und jede Menge Laune zu versprühen. Neben dem erwähnten Sänger ist vor allem die Rhythmusgruppe Pete Jupp (dr) und Merv Goldsworthy (bs) zu erwähnen. Man hört den beiden ihre 35 Jahre andauernde Zusammenarbeit fraglos an – das groovt und rockt so schön natürlich, wie das nur langjährig eingespielte Rhythmus-Buddies hinbekommen. Auch die seit dem „Rockville“-Album fest an Bord befindlichen Jim Kirkpatrick (gtr) und Jem Davis (keys) passen sich perfekt ein – bei FM gibt’s keinen Platz für Ego-Trips, der Song steht im Vordergrund. Dennoch ist freilich genug Platz für eine ganze Reihe exzellenter Gitarrensoli von Maestro Kirkpatrick, der mit Goldsworthy auch noch für die Backings sorgt.

Die Songauswahl ist wie so oft Geschmackssache. Auf „The Italian Job“ dominieren die Songs der ersten beiden Alben, ohne Frage die bekanntesten und erfolgreichsten Scheiben der Band. Von „Tough It Out“ gibt’s gleich fünf Songs, von „Indiscreet“ vier plus die 1987er Non-Album-Single ‚Let Love Be The Leader‘. Da kommt der Rest des Backkataloges naturgemäß ein wenig kurz. Auch wenn die Band sich bemüht, so ziemlich jedes Album zumindest anzuschneiden, fehlen dennoch Songs der ehedem ein wenig untergegangenen Neunziger-Alben „Takin‘ It To The Streets“, „Dead Man’s Shoes“ und „Paraphernalia“. Aber das ist natürlich ein reines Luxusproblem – FM könnten ein Vier-Stunden-Set füllen – und es würden immer noch einige Fan-Faves fehlen. Die achtzig Minuten kommen jedenfalls komplett ohne Füller aus, und was soll schon schiefgehen, wenn AOR-Klassiker wie ‚That Girl‘, ‚Other Side Of Midnight‘, ‚Closer To Heaven‘, ‚Bad Luck‘ und ‚I Belong To The Night‘ mit neuerem, genauso edlem Stoff wie ‚Black Magic‘, ‚Life Is A Highway‘ und ‚Over You‘ gemischt werden?

Auch soundtechnisch ist „The Italian Job“ absolut perfekt ausgefallen, ohne dabei steril zu wirken. Die DVD zeigt auch einen ohne großen Firlefanz abgefilmten Gig, der keine MTV-Schnitte oder seltsame Effekte nötig hat – man kann einfach einer Weltklasseband dabei zuschauen, wie sie gemeinsam mit ihrem Publikum eine gute Zeit hat. Steve Overland sieht zwar mittlerweile aus wie ein netter Bio- oder Physik-Lehrer (falls so etwas vorstellbar ist), wenn ihm aber aufgrund der begeisterten Fangesänge vor Freude die Worte verlassen, kann man nicht anders, als sich mit ihm zu freuen.

Fans der Band brauchen eh‘ keine Empfehlung mehr, aber auch der Rest der AOR-/Classic-Rock-Welt, der sich bisher noch nicht mit der Band beschäftigt hat, bekommen hier einen exzellenten Einstieg geboten – und das sind trotz der Tatsache, das FM in ihrer kompletten Karriere noch nicht ein einziges schwaches Album gemacht haben, immer noch viel zu viele. Also: JEDER, der Alben von Journey, Boston, Bad Company, Whitesnake, Foreigner, REO Speedwagon, Magnum oder Bon Jovi in seiner Sammlung stehen hat, sollte sich „The Italian Job“ sofort auf die Einkaufliste schreiben. Wäre schön, wenn FM endlich mal ihren Underdog-Status hinter sich lassen und auch kommerziell gesehen endlich in die vorderen Ränge der Plüschrocker aufsteigen. Qualitativ sind sie dort nämlich, wie auf „The Italian Job“ einmal mehr nachzuhören, seit 1985 nicht mehr wegzudenken.

Songs For The Dead Live

Es ist eigentlich wirklich verwunderlich, das King Diamonds „kleine Horrorschau“ erst 2019 als visuelles Dokument veröffentlicht wird. Dafür kommt die DVD respektive BluRay „Songs For The Dead Live“ aber immerhin mit zwei kompletten Shows – wenn auch mit identischer Setlist. Einmal wurde auf der großen Bühne des Graspop-Festival gefilmt, die zweite Show stammt aus dem Fillmore-Club in Philadelphia.

Somit ist auch zu verzeihen, dass „Songs For The Dead Live“ ganz ohne Frage eine hundertprozentige Nostalgieveranstaltung geworden ist. Das aktuellste Stück der Setlist, ‚Eye Of The Witch‘, hat bereits 29 Jahre auf dem Buckel, und im Zentrum der Show steht die Performance des kompletten „Abigail“-Albums, erschienen 1987. Jedes von Kings Alben bis „The Eye“ ist mit genau einem Song vertreten, inklusive der ersten beiden Mercyful Fate-Longplayer. Die achtzig Minuten bringen somit also keine Überraschungen oder gar Neues, aber eben ein gnadenloses Klassiker-F(r)euerwerk, das allen Achtziger-Freaks reingehen sollte wie ein kühles Pils. Da aus der „goldenen Ära“ des Metal-Hui-Buh aber keine visuellen Dokumente existieren, geht das fraglos völlig in Ordnung – dank seines Corpsepaint ist King ehedem optisch alterslos, da fühlt man sich selbst gleich auch dreißig Jahre zurückversetzt. Und King hat tatsächlich die „üblichen Verdächtigen“ auch showtechnisch verewigt, ob die olle Grandma im Rollstuhl oder Klein-Abigail,und natürlich gibt’s auch den Knochen-Mikroständer – eben eine klassische King-Diamond-Show, wie man sie sehen will. Das Kasperletheater für Kuttenträger soll aber in diesem Fall nicht wie in manch‘ anderem Fall über musikalische Schwächen hinwegtäuschen. Angeführt vom bewährten Gitarrenteam Andy LaRocque und Mike Wead und Langzeitdrummer Matt Thompson gibt sich Kings Band erwartungsgemäß keinerlei Blöße. Das komplexe Material wird schweinetight und detailreich auf die Bühne gebracht, und King selbst – der heult, singt, krächzt und grunzt seine Geistergeschichten darüber, als hätten wir 1987. Spooky! Anachronistisch wirkt hier nur der fraglos zeitgemäße, ziemlich perfekte Sound – ein wenig zu perfekt sogar schon, denn gelegentlich fragt man sich dann doch, ob da alles wirklich live so passiert ist. Speziell, wenn man bisweilen drei verschiedene Kings übereinander gelayert hört, kann man das auch nicht mit den Backings von Kings Gattin Livia Zita komplett wegerklären. Vielleicht waren’s aber auch die Geister von Melissa oder Missy höchstpersönlich, die der Band da unter die Arme gegriffen haben.

Das kann aber den Spaß am Gebotenen nicht verderben. Songs wie ‚Welcome Home‘, ‚Sleepless Nights‘ (als Eröffnungs-Doppel!), ‚Come To The Sabbath‘, ‚The Family Ghost‘ und ‚Omens‘ gehören halt ganz diskussionsfrei zum Besten, was die Achtziger an anspruchsvollem Metal zu bieten hatten und klingen auch heute noch völlig eigenständig und unkonventionell. Im Übrigen halte ich es da mit Mike Portnoy, der vor einer Weile schon dafür plädierte, King Diamond und Mercyful Fate endlich ihren Platz als wichtige Vorreiter des progressiven Metal zuzugestehen – wenn man die Mittachtziger Queensryche und Fates Warning als Progmetal-Vorreiter akzeptiert, muss man das bei den mindestens genauso vertrackten, von virtuosen Musikern dargebotenen und weit unkonventioneller komponierten Epen des King erst recht tun. Auch die Bildregie ist ziemlich ideal ausgefallen. Auch wenn sich mancher vielleicht an den relativ schnellen Schnitten stören könnte, es ist nun mal nicht einfach, das theatralische Geschehen von King und seinen „schauspielernden“ Gästen einzufangen und trotzdem zu jedem imposanten Break auf den Fingern des jeweiligen Musikers zu kleben. Welche der Shows man bevorzugt, ist persönliche Geschmackssache – aufgrund der imposanten Festivalkulisse ist das Pinkpop-Konzert aber vielleicht etwas beeindruckender geraten, während bei der Fillmore-Show das Publikum sichtbar aus Die-Hard-Fans besteht, die jede Sekunde begeistert abfeiern.

Für seine erste DVD/BluRay-Veröffentlichung hat King Diamond also ein ziemlich duftes Paket geschnürt, das für die jahrelange Wartezeit durchaus entschädigt. Nun wäre es aber auch Zeit, mal wieder eine neue Horror-Oper aus dem Hause Petersen…

Symphonized

Anneke Van Giersbergen hatte erst ein knappes halbes Jahr zuvor ihren Albumeinstand auf dem The Gathering-Klassiker „Mandylion“ gegeben, als sie im Februar 1996 zum ersten Mal stellvertretend für ihre Band mit einem Orchester auftrat und die Songs ‚Leaves‘ und ‚Strange Machines‘ zum Besten geben durfte. Satte 22 Jahre und viele Studioalben später gibt es nun mit „Symphonized“ ein komplettes Orchesteralbum von Anneke – gut Ding will eben Weile haben.

Und, gut ist das Ding auf jeden Fall geworden. Denn Anneke hat zum Glück keines der üblichen Rock-meets-Classic-Dinger aufgezogen, mit denen schon Metallica, Kiss und Jon Lord baden gingen. Stattdessen orientiert sich „Symphonized“ an Peter Gabriels „New Blood“-Projekt, will sagen: es gibt hier keinerlei Rock-Instrumentierung, alles ist exklusiv für Annekes Stimme und das Residentie Orkest von Den Haag arrangiert worden, lediglich eine Akustikgitarre gibt es gelegentlich noch zu hören. Nur in ‚Your Glorious Light Will Shine‘ gibt es Rock-Schlagzeug verwandtes Spiel zu hören, ansonsten gibt es keinerlei Anbiederungen an den Rock- und Metal-Fan. Das hat den Vorteil, dass sich die Instrumentierung nie im Weg steht und die Arrangements nie in den überladenen Kitsch von Sonderlichkeiten wie „S&M“ abdriften. So werden beispielsweise die TripHop-Rhythmen von ‚Amity‘ vom Cello aufgegriffen, ‚Freedom (Rio)‘ klingt plötzlich nach einem Soundtrack aus dem Marvel Cinematic Universe, und aus dem psychedelischen Reisebericht ‚Travel‘ wird ein zwischen Dead Can Dance und den orchestralen Anwandlungen von Roger Waters pendelndes Wechselbad der Gefühle. Auch ein reines Klassikstück hat Anneke aufgegriffen: ‚When I Am Laid In Earth‘ (Henry Purcell) hält sich nahe am Original, wobei Anneke gar nicht versucht, das Opern-Pathos zu kopieren, sondern einfach sie selbst bleibt – und somit selbst dem oft gehörten Stück eine völlig eigene Note abgewinnt. Neu ist das auf holländisch gesungene ‚Zo Lief‘, und Annekes Die-Hard-Fans werden sich über den großartigen, aber gewöhnlich übersehenen Lorrainville-Song ‚Two Souls‘ einen Ast freuen.

Interessant an „Symphonized“ ist aber vor allem, das auch die Songs des die Whiskey-Soda-Redaktion nicht unbedingt vom Hocker reißenden Vuur-Albums hier deutlich besser klingen als in den metallischen Albumversionen. Das hochdynamisch agierende Orchester gibt Annekes Jahrhundertstimme den Platz, der ihr zusteht, und die lahmen Dutzendware-Progmetalriffs hat der Arrangeur der Partituren auch gleich ganz ignoriert – wer immer das war, ich schlage ihn hiermit hochoffiziell als Produzenten des nächsten Vuur-Albums vor. Auch das abschließende ‚Shores Of India‘ schlägt – sorry, Arjen, ich hab‘ Dich trotzdem lieb! – die Version vom „The Gentle Storm“-Album um Längen – tja, vielleicht sollte sich Anneke zukünftig lieber mit Orchestermusikern statt Prog-Metallern umgeben…

Der einzige Nachteil des Albums ist seine Länge. In nur einer Stunde Spielzeit kann nämlich gerade mal die Oberfläche von Annekes Backkatalog angekratzt werden – so gibt’s zum Beispiel nur zwei Songs aus ihren Soloalben, und die Kollaborationen mit Devin Townsend bleiben ebenfalls außen vor. Auch aus der The Gathering-Ära fallen jedem Fan mit Sicherheit sofort ein paar Songs ein, die sich hier noch wunderbar gemacht hätten. Aber vielleicht gibt’s ja bald ein „Symphonized II“, und dort finden wir dann noch ‚Day After Yesterday‘, Hyperdrive!‘, ‚In Motion‘, ‚Adore‘, ‚To Catch A Thief‘ und so weiter… Aber solange hat uns Lovely Anneke mit dem vorliegenden Album ein ganz und gar fantastisches Werk spendiert, das fraglos zu den Highlights ihrer daran nicht unbedingt armen Karriere gehört. Pflichtkauf für alle Anneke-Fans!

We Are Seven

Christina Booth ist halt, man kann es nicht anders ausdrücken, einfach niedlich. Da vergibt man ihr als Fan so Einiges – beispielsweise, dass sie nun auch das IPad (Disclaimer: auch andere Marken sind im Handel erhältlich) als Teleprompter am Mikroständer befestigt hat, obwohl das einfach kacke aussieht. Oder… dass auf der visuellen Ausgabe des aktuellen Magenta-Livealbums ein paar Mal ihre Stimme klar, laut und deutlich erklingt, obwohl sie sich nicht einmal in der Nähe des Gesangsmikros befindet. Auch die Gitarrenparts von Chris Fry sehen nicht immer so aus, wie man sie tatsächlich hört – und da er nicht annähernd so knuffelig ausschaut wie Christina, gibt’s hier für ihn stellvertretend den warnenden Finger.

Aber, Spaß beiseite, das Nachbearbeiten und Overdubben von Livematerial gehört eben dazu und ist meiner bescheidenen Meinung nach auch meist den unbearbeiteten, fehlerbehafteten Takes vorzuziehen. Das Gleiche gilt für gesampelte Backing-Stimmen – obwohl Magenta mit Sicherheit auch in der Lage wären, die selbst zu singen. Auch wenn die Band sich nicht allzu geschickt dabei anstellt, diese „Bescheisser-Tricks“ auf ihrer DVD zu verstecken, ändert das nicht viel am Unterhaltungswert der Scheibe. Zwar stehe ich für gewöhnlich nicht allzu sehr auf die „komplettes Album am Stück spielen“-Masche, aber da das letzte Magenta-Album „We Are Legend“ einfach ein ziemlicher Hammer war, will ich hier gar nicht anfangen zu meckern. Speziell, weil die Livetakes genauso kraftvoll und dynamisch daherkommen wie die Studioversionen. Neben den Stars der Band, Christina und Robert „Oldfield 2.0“ Reed muss hier nun endlich auch einmal die supertighte und energiegeladene Rhythmusgruppe Dan Nelson und Jon „Jiffy“ Griffiths erwähnt werden – der aktuelle Magenta-Livesound wäre nur halb so packend ohne deren traumwandlerisch sicher verzahntes Spiel. In der zweiten Hälfte gibt’s mit „Seven“ (von 2004) dann noch ein weiteres komplettes Album als Livetake, und da kommen die Qualitäten der beiden Groove-Buddies ganz besonders zum Tragen. Da ist ein ganz neuer Drive, eine ganz unerwartete Frische, die den Songs wie ‚Gluttony‘ oder ‚Lust‘ unerwartet neues Leben einhauchen. Der – beim Original nicht unberechtigte – Vorwurf an „Seven“, sich zu stark an den Großen Alten wie Yes, ELP und Mike Oldfield zu orientieren, wird dank der beherzt rockenden Interpretationen zu einem guten Stück entkräftet. Robert, Chris und Christina sollten die beiden gut festhalten – ein absoluter Glückgriff für die Band.

Zu den beiden komplett gespielten Alben kommen mit dem Opener ‚Speechless‘, der aus dem Fundus von Robert und Christinas Dance-Projekt (!) Trippa stammt und den unumgänglichen ‚Prekestolen‘ und ‚The Lizard King‘ (seltsamerweise in den „Seven“-Set integriert) noch drei Extrasongs, und zwei Gastmusikerinnen an Querflöte und Oboe geben dem Gig einen weiteren besonderen Anstrich und „a beautiful warmth“ (Christina). Auch der Sound ist – erwartet jemand von Robert Reed etwas Anderes? – perfekt und glasklar ausgefallen. Trotz Overdubs, Samples und Studiofein gibt es aber noch genug Liveflair, dass sich „We Are Seven“ auch für die lohnt, die die beiden Studioscheiben bereits besitzen. Klar, es gibt wahrlich schon genug Livemitschnitte von Magenta, da gibt’s keien Diskussion. Da die Band sich allerdings bekanntlich selten in unsere Gefilde verirrt und diese Situation durch das Brexit-Debakel eher noch verschlimmern dürfte, sind diese bei den deutschen Magenta-Fans auch immer willkommen – und im Gegensatz zu manch anderer Prog-Band, die ihre Fans inflationär mit Liveshows überschwemmt, stimmt hier auch immer die Qualität.

Für alle Magenta-Fans ist das hier also ehedem ein No-Brainer, generell sollten aber alle Freunde von melodischem Symphonic- und Neo-Prog hier zuschlagen. Magenta haben sich nämlich, ähnlich wie Big Big Train, in den letzten Jahren enorm weiterentwickelt und müssen ohne Diskussion zu den ganz Großen der heutigen Szene gezählt werden. Das Album ist – wie große Teile des Backkatalogs der Band – über den Webshop von Just For Kicks zu beziehen – als Doppel-DVD und als Doppel-CD.