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Hoffnung

Wer hätte damit gerechnet, den Harlekin eines so baldigen Tages wieder mit Hut (der war ihm ja im Trubel der ‚Revolution‘ abhanden gekommen), geschweige denn jemals in der Totalen zu Gesicht zu bekommen? Allzu menschlich, allzu involviert erscheint der Blick dieser Figur, die sich über Jahre in die Rolle des neutralen, übergeordneten, nicht zuletzt aber auch maskottchenhaften Moderators fügte, um die treuen Lacrimaniacs durch die aufwändig ausgeschmückten Themenwelten des Gothic-Projektes zu führen. Nichts erscheint nun gebotener, als die Züge des jungen Herrn nach Hoffnung abzusuchen – und siehe da: Um ein, zwei Ecken wird man tatsächlich fündig.

Zugegeben: Rein dem Titel nach sind Nummern wie ‚Tränen der Liebe‘ und ‚Kelch der Hoffnung‘ völlig ohne Belang, da nichts weiter als Versatzstücke einstiger Tracklisten, und auch das Vokabular lässt regelmäßig Baukastenverdacht aufkommen. Musikalisch aber wird ihnen die volle Daseinsberechtigung zuteil. Mag das erstgenannte jenseits seiner ausladenden Introsequenz auch textlich an ‚Bresso‘ (1992; kann man also mal machen) angelehnt erscheinen, so trifft es doch eine verwertbare Aussage über die aktuelle stilistischen Verortbarung von Nurmi, Wolff und Band. Metallastige Gitarrengewitter preschen über Klavier und Geigen, polternde Pauken und grollende Bassläufe liefern sich ein Kräftemessen und ein 60-köpfiges Orchester projiziert die im Kern bandformatig geschnittenen Stücke ins von Wolff und Nurmi in Eigenregie zu (Noten-)Papier gebrachte Unendliche. Bekannt? Ja. Uncool? Vielleicht. Aber eben auch äußerst bewährt.

Dass an einer solchen Gigantomanie jede Zeile schwer zu tragen hat und Tilo Wolff ohnehin textlich gesehen beständig zwischen Grütze, Grandezza und Genie pendelt, ist ein bekanntes, wenn auch nicht mehr sonderlich fatales Problem. Lyrisch waren die aufwändigen Partituren immer schon eher unterfrachtet. Texte durften bei Lacrimosa allerdings glücklicherweise immer getrost Begleiterscheinung sein. Und was das Ausrichten emotionaler Festakte angeht, sind Lacrimosa selten ambitionierter zu Werke gegangen als auf ‚Hoffnung‘. In den Orchestralpassagen wird kein Stilmittel, kein Notierungszeichen ausgelassen und selbst Pausen konnten ihren Platz in der Partitur stolz behaupten. Wenn sich dann plötzlich die besagten Metal-Riffs und schleppende Basslinien dazwischendrängen, wird das Lacrimosa-Feeling von neuem lebendig.

Überhaupt war die Sache mit der ‚Revolution‘ noch nicht das Ende der Fahnenstange. Mehr Biss, mehr Reibung versammelte noch kein Lacrimosa-Album auf so engem Raum – und das, obwohl Tilo Wolff auch dieses Mal das sanfte Raunen den untot anmutenden Lauten vorzieht. Anne Nurmi feiert indes auf ‚Thunder And Lightning‘ ihre ganz persönliche Sternstunde, handelt es sich hier doch um den mitreißendsten eigenen Songbeitrag, den die Finnin seit langer Zeit auf einem Lacrimosa-Album unterbringen konnte. Im Duett ‚Kaleidoskop‘ ergänzen sich beide auf kongeniale Art und Weise. Selbst der „Arsch“ des letzten Albums kann noch getoppt werden: Im bitterbösen ‚Unterwelt‘, offenbar einem Stück über Kränkung und Abrechnung, entfleucht dem Gothic-Gentleman doch glatt das F-Wort.

Das in seinem Verlauf völlig unberechenbare ‚Keine Schatten Mehr‘ wächst sich von einer etwas befremdlichen, spieluhrhaften Songminiatur zu einem der wohl kraftvollsten je gehörten Zwischenspiele aus. Ihm obliegt die Teilung des großen Finales aus ‚Der Freie Fall – Apeiron, Pt. 1‘ und ‚Apeiron – Der Freie Fall, Pt. 2‘ (ja, die Betitelung muss so verdreht). Der Zweiakter erinnert nicht nur strukturell an die Kernkompositionen des ‚Fassade‘-Albums von 2001.

Kurzum: Die Leidenschaft und die Akribie, mit der Lacrimosa seit nunmehr punktgenau 25 Jahren zu Werke schreiten, verdient Achtung. Umso befremdlicher ist es da, sich als Rezensent mit lediglich ausschnittweisen Höreindrücken abfinden zu müssen. Ein potentielles Zeichen der Geringschätzung – und das von einer Band, die sich immer wieder zum ganzheitlichen Hörerlebnis bekennt. Ist den Musikjournalisten keine Geduld, keine Gründlichkeit mehr zuzutrauen? Finden Lacrimosa gar ihre eigenen Songs zu sperrig? Der Besuch der so genannten „Media Lounge“ jedenfalls hinterlässt einen schalen Nachgeschmack – und hätte dieses Album um ein Haar um seine Lorbeeren gebracht. Und jeden Satz dieses Textes um seine … sagen wir … letzten drei Wörter. Nun, vielleicht ja beim nächsten Mal. Es liegt in eurer Hand.

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