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Chelsea Wolfe – Von Drone und Cortison

chelsea_wolfe_1.jpg „24 Stunden des Bangens und Hoffens liegen hinter dem Berliner Publikum. Chelsea Wolfe war angeschlagen, hatte ihre Stimme an eine fiese Bronchitis verloren und ihren Auftritt im polnischen Posen absagen müssen. Gleiches hätte wohl auch Berlin bevorgestanden, hätte Team Wolfe nicht an den richtigen Arzt konsultiert: En „vocal doctor“, der wohl auch schon Lady Gaga oder Eric Clapton unter die Arme gegriffen haben soll, verabreichte ihr eine geheimnisvolle Infusion (das legte zumindest ein über die sozialen Netzwerke verbreitetes Foto nahe) und rettete den Berlinern damit wohl den lange herbeigesehnten Abend – jedenfalls im hohen Prozentbereich.

Doch lag es zunächst an A Dead Forest Index, den ersten Gang zu reichen. Ihr noch begrenztes, aber jetzt schon hochklassiges Portfolio bringen die zwei Brüder auf die Bühne, ohne dass Abstriche gegenüber ihrer bemerkenswerten Erst-EP zu verzeichnen wären. Ihre minimalistische, dafür aber umso melodiösere Spielart des Darkwave findet viel Zuspruch im Publikum. Dass sich Adam und Sam Sherry als frischgebackener Sargent-House-Act seit kurzem zu den Labelgeschwistern Wolfes zählen dürfen, ist da nur verdient.
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Als die kränkliche Headlinerin nach ihrer Band auf die Bühne des ausverkauften SO36 tritt, um die von Schlafparalyse und Bewusstseins-Unwuchten genährten Drone-Folk-Songs ihres vielgepriesenen neuen Albums ‚Abyss‘ aufzuführen, hatte man schon beinahe vergessen, was an diesem Abend zu befürchten stand: ein spontaner Abbruch etwa, eine unterirdische (Stimm-)Performance, ein Verzicht auf Zugaben … die Gefahr war schließlich eher in Schach gehalten denn wirklich gebannt.

Der für sich genommen bassgewaltigen Opener ‚Carrion Flowers‘ beißt dann tatsächlich etwas sanfter zu: Nur zögerlich tastet sich Chelsea Wolfe an ihre Stimme heran. Es sitzt mehr dran als erwartet; fast scheint es, als wäre es der Sängerin selbst nicht ganz geheuer, dass breite Areale ihres Stimmunfangs plötzlich wieder zur Verfügung stehen. Konsequenz: Die Vorstöße werden wagemutiger. Das Organ hält stand und entfaltet – wenn auch nicht ganz bis in den hinterletzten Winkel des Club-Schlauchs – wohliges Unbehagen. Und neben anerkennendem Applaus auch ein konstantes Bisschen Sorge unter den Konzertgästen.
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Spontanheilung also nicht ganz; stimmlich ist das Ganze eine Nuance gedämpfter, als man es von Chelsea Wolfe kennt. In hohen Lagen behält die Bronchitis die Oberhand und der Konzertbesucher hat sich das Volumen dazuzudenken. Ein paar Sprühstöße Atemspray retten sie in so ziemlich jeden nächsten Song. Die Setlist des Abends hat ein wenig mehr Überarbeitung über sich ergehen lassen müssen, als von Station zu Station üblich ist. Insbesondere die traditionelle Schluss-Verausgabung ‚Pale On Pale‘ wird – wie auch alle anderen aus der Zeit vor ‚Pain Is Beauty‘ – eingespart, das eigentlich obligatorische ‚Feral Love‘ ebenso; daneben scheint ein Zerr-Brecher wie ‚Iron Moon‘ aus Vorsicht weiter in die hinteren Bereiche des Sets gerutscht zu sein.
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Auf ebendiesen letzten Metern rutscht die bis dahin famose Distortion dorthin, wo sie nicht hingehört. Die Sängerin hat hörbar mit ihrem Körper zu ringen. Wer schon zuvor in den Genuss eines Konzertes der Tour gekommen war, dem wird das mit dem Eintauchen womöglich eine Spur schwerer gefallen, das Wechsel- und Versteckspiel der Stile etwas angestrengt vorgekommen sein. Dennoch: Die Zugabe läuft. Und Ben Chisholm, Chelsea Wolfe, Dylan Fujioka und Aurielle Zeitler stehen dort und geben alles – und das war am Ende weitaus mehr, als man zu hoffen gewagt hatte. Vermutlich hätte als Notfallplan auch eine reine Instrumentalshow funktioniert. Berlin jubelt zu Recht. Ob und wie sich dieser hart erkämpfte Auftritt noch rächen wird, bleibt jedoch abzuwarten. Verdient hätte Team Wolfe es in keinem Fall.

Text: Valentin Erning
Fotos: Erik Tesmer

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