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A Deeper Cut

Dieses ganze Neo-Classic-Rock-Ding hat sich spätestens 2018 selbst überlebt – allerspätestens. Das liegt hauptsächlich an zwei Dingen. Erstens ist es logisch, daß keine komplette neue Szene aus der Hinterlassenschaft der insgesamt nicht einmal zwei Stunden Musik auf von „IV“, „Straight Shooter“ und „Electric Ladyland“ entstehen kann. Zweitens haben sich viele der Bands der Bewegung mittlerweile entweder schon wieder aufgelöst oder wahlweise in Stoner-Rock-Bands respektive konventionelle, Absatzzahlen und Airplay nachhechelnde Indierock-Combos verwandelt. Auch auf ein Comeback von The Temperance Movement hätte ich keinen Pfifferling mehr gesetzt: nach dem exzellenten Debüt vergingen drei lange Jahre, und das nachfolgende „White Bear“ war eben genau so eine Anbiederung an den hippen Massengeschmack, wie sie eigentlich kein Rockfan so wirklich brauchte und mit Recht ein kommerzieller Flop.

Zwei Jahre nach „White Bear“ geht’s nun back to the roots. Ja, früher haben Bands das nach acht oder neun Alben erst gesagt, aber heute ist eben alles anders, und in fünf Jahren, in denen The Temperance Movement gerade mal drei Scheiben zustande gebracht haben, haben Free seinerzeit sich gegründet, sechs Alben gemacht, unzählige Shows gespielt, ein ganzes Genre geprägt und gleich wieder aufgelöst. Heute undenkbar. Wie dem auch sei, die hippe Single ‚Caught In The Middle‘, die das Album mit einer Mischung aus Red Hot Chili Peppers, Britpop und Lenny Kravitz eröffnet, täuscht. Denn das Meiste auf „A Deeper Cut“ tönt wieder ziemlich exakt wie das Material auf dem Debüt. Also, grob gesagt, eine Mischung aus The Black Crowes, Matchbox 20 und ein paar Spritzern Free, (jungen) Aerosmith und Lynyrd Skynyrd. Das mag nicht furchtbar originell sein, doch das Feine ist, daß „A Deeper Cut“ es auch qualitativ mit den Songs aufnehmen kann, die vor fünf Jahren Alt und Jung gleichermaßen begeistert haben. Ob die Band in ‚Love And Devotion‘ Sly & The Family Stone huldigt oder in der wunderschönen Ballade ‚Another Spiral‘ Exil auf der Hauptstraße bezieht, die Hooklines kommen groß, die Grooves mit Arschwackelgarantie (Basser Nick Fyffe spielte früher bei Jamiroquai) und – natürlich – die Vocals hochemotional. Denn nach wie vor ist die Geheimwaffe der Band das Organ von Sänger Phil Campbell. Ohne künstliche Manierismen verwandelt das alles, was die Songs in seine Richtung werfen, in reines Rock’n’Roll-Gold. Auch Gewagteres wie die Reggae-lastige Strophe von ‚Beast Nation‘ rollt ihm so locker und jederzeit gefühlig von den Lippen, daß es eine wahre Freude ist. Das Lob, das Ian Paice, Glenn Hughes und Mick Jagger in Phils Richtung versprühen, hat er sich definitiv mehr als verdient – auch wenn man kaum widersprechen kann, daß er sich über weite Strecken ziemlich exakt wie Chris Robinson anhört. Aber: wen kümmert’s? Wo die Konkurrenz von Plant- und Van Zant-Klonen überquillt, ist das sogar eine nette Abwechslung.

Jede Menge Hits, toller Sänger, knackige (wenn auch sehr saubere) Produktion – also alles perfekt? Fast. Denn, was The Temperance Movement zum GANZ großen Wurf fehlt, ist der Keith Richards, Joe Perry, Paul Kossoff oder Richie Sambora, der Phil Campbell mit gleichermaßen prägenden Gitarren das kongeniale Gegenstück bietet. Die Gitarrenarbeit ist nämlich auch auf „A Deeper Cut“ ziemlich unauffällig ausgefallen – wollte man böse sein, könnte man auch „gewöhnlich“ schreiben. Zu einem echten Rockalbum und angehenden Klassiker gehören aber eben auch ein paar instrumentale Fleißarbeiten, Ecken und Kanten, die dem Material Tiefe verleihen. Da schielt „A Deeper Cut“ nach wie vor zu sehr auf Nummer Sicher.

„A Deeper Cut“ ist also zugegebenerweise wohl auch kein Klassiker-Anwärter, aber seit langer Zeit endlich mal wieder ein Highlight des Neo-Classic-Rock-Movements, das allen Fans moderner, siebzigerbeeinflusster Mucke unbedingt nahegelegt werden muss.

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