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22, A Million

Es gibt mehrere Arten der Bewusstseinsänderung. Bei der religiösen erhofft man, über die Ekstase das Einswerden mit Gott zu empfinden. Bei der gezielten konzentriert man sich in der Meditation oder Askese auf einen bestimmten Aspekt wie eine Fragestellung. Die sensorische ist die verändernde Sinneswahrnehmung oder –verschmelzung durch die Einnahme von Drogen. Oder aber es gibt die paranormale, bei der man tranceartig oder in Hypnose in die Zukunft oder Vergangenheit schauen sollen kann. Welche Art Justin Vernon vollzogen hat, um dieses Album zu komponieren, oder ob es einfach nur aus seinem Genius entspringt, ist unbekannt. Das Resultat ist, dass ’22, A Million‘ selbst zur Droge wird – für den Hörer.

Zunächst einmal häufen bis überschlagen sich in einigen Tracks die Elektrofragmente: sonorisch-nervös und paradoxerweise entspannend im Opening ’22 (OVER S∞∞N)‘, eine brummend-knarzende Implosion, die einen um die Stereoanlage bangen lässt, in ’10 d E A T h b R E a s T ⚄ ⚄‘, ultra-autotuned im Style von Imogen Heap bei ‚715 – CRΣΣKS‘. Dabei wirkt jeder Sound sowohl halb wahllos reingeschmissen als auch wohl überlegt und die Songs bis ins kleinste Detail durchdacht und auskomponiert. Mit geschlossenen Augen – quasi sensorisch verschmelzend – kann man die differenzierten Reize auf der Zunge rausschmecken.

Nicht jeder wohl überlegte Sound ist auch automatisch wohl klingend. Besonders beim ersten kompletten Hören starrt man verdutzt auf die Albumverpackung und fragt sich: ‚[i]Bon Iver, is that you?[/i]‘ Doch spätestens die beiden besten Songs von ’22, A Million‘ verdrängen einem die Skepsis über den neuen Sound. Wobei Favorit Nummer 1 ’33 “GOD”‘ ebenfalls mehr als einen Anlauf brauchte. Aber dem unglaublichen Aufbau des Songs kann sich niemand entziehen. Die erste Strophe hat ein leichtes Klaviermotiv, Synthie-Streicher, Falsett-Gesang, hochgepitchte Gesangsbrocken. In der zweiten schöpft er den neuen Elektrosound bis ins letzte Quäntchen perfekt an Volumen aus und bauscht es im letzten Vers aus einem leisen Plätschern zu einem überwältigenden, bedrückenden Sturm aus tief oktaviertem Gesang und schneller werdender Melodie auf.

Der zweite kongeniale Song ‚8 (circle)‘ ist schlichtweg positiv. Er entfaltet in einer souligen Art von Chet Faker eine solch große Weite, die immer stärker wächst, je mehr Instrumente sich Vernons Reise anschließen. Es erinnert an das nicht weniger fantastische ‚Holocene‘ und rührt selbst beim neunten Hören zu Tränen. Hier singt er auch endlich überwiegend in seiner von mir bevorzugten tiefen Brustlage.

Justin Vernon entscheidet sich auf seinem dritten Album letztlich für das gleiche Konzept, an welches sich beispielsweise Mumford And Sons – ebenfalls auf ihrem dritten Album ‚Wilder Mind‘ – gewagt haben: er verändert seinen Sound komplett und bleibt im Kern seines Songwritings gleich, was dabei das Entscheidende ist. Einige seiner Songs würden auf akustische Art vorgetragen locker auf seinem Vorgängeralbum Platz finden können. Dabei reicht seine musikalische Vorstellung und sein innovatives Schaffen vergleichsweise an ‚Pet Sounds‘ von den Beach Boys heran.

Früher wollte er flüstern, jetzt will er schreien. So ist es laut Vernon ein

‚bombastischer Ausbruch an Stelle von introvertierter Traurigkeit, um der emotionalen Eintönigkeit zu entfliehen‘

.Und das, obwohl das Projekt Bon Iver bereits vor Jahren abgeschrieben war. Zu viele Leute um Vernon herum und zu wenig Abgeschiedenheit, was zu Panikattacken und Depressionen führte, waren der Grund dafür. Doch womöglich hat eine ekstatische Erfahrung ihn zu der Reinkarnation der Band verleitet, was auch begründen würde, weshalb seine Texte diesmal überwiegend religiös geprägt sind.

Nicht jeder Song ist perfekt. Aber Bon Iver schaffen dennoch eine Art der Bewusstseinserweiterung, die eine neue Art verdient hätte: die musikalische. Deshalb vergesst euren Lieblingscocktail, und mag er noch so vollgetankt mit Maracujasaft, Sahne, Rohrzucker oder Blue Curaçao sein. Justin Vernon liefert uns eine Mische, die es so wohl noch nicht gegeben hat. Und sie macht süchtig.

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