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The Endless River

Wann kommt es schon einmal vor, dass man ein neues Album einer Band in den Händen halten kann, deren letzte Veröffentlichung 20 Jahre zurück liegt? Wenn es sich dann auch noch um eine legendäre Band handelt, die mit ihrer Musik ein Genre geprägt und eine ganze Generation beeinflusst hat, ist das schon etwas Besonderes. Hier ist also „The Endless River“ von Pink Floyd. Wenn es eine Legende im psychedelischen Progrock gibt, dann Pink Floyd. 260 bis 300 Millionen verkaufte Tonträger, acht Top-Eins-Alben und legendäre Longplayer wie „The Wall“ oder „Dark Side Of The Moon“ sprechen eine mehr als deutliche Sprache. „The Division Bell“ war 1994 das letzte Studio-Album dieser Ausnahmeband und wurde in der Besetzung David Gilmour, Nick Mason und Richard Wright eingespielt. Es verkaufte sich bis heute insgesamt zwölf Millionen Mal und stand in zehn Ländern auf Platz Eins der Charts. Richard „Rick“ Wright, Keyboarder und Songwriter von Pink Floyd, verstarb am 15.09.2008 überraschend an Krebs.

Damit ist die Erwartungshaltung an „The Endless River“ natürlich gleichzeitig auch immens, quasi unerreichbar hoch. Alles andere als ein Überflieger-Album wäre eine Enttäuschung nach all den Jahren, oder? Versuchen wir aber, einmal ganz realistisch an die Sache heran zu gehen und klären einmal die Fakten zum Hintergrund des neuen Albums. Zunächst ist wichtig zu wissen, dass es sich nicht um wirklich neues Material handelt. David Gilmour hat zum Konzept erklärt, dass „The Endless River“ auf der Musik basiert, die im Rahmen der 1993er ‚Division Bell‘-Sessions aufgenommen wurde. Aus über 20 Stunden Material, auf dem David Gilmour, Nick Mason und Richard Wright zu hören waren, wählten Gilmour und Mason passendes Material aus, das dann die Grundlage für das neue Album bildete. Neue Parts wurden hinzugefügt, andere ganz neu eingespielt. Moderne Studiotechnologie kam zum Einsatz, um aus dem alen Material etwas völlig Neues zu erschaffen. Nick Mason sieht die diese neu aufgegriffenen und umgearbeiteten Tracks als wichtigen Teil des Band-Repertoires. Sogesehen gibt es also überwiegend „altes Material“ auf „The Endless River“, das von David Gilmour, Phil Manzanera, Youth und Andy Jackson produziert wurde. Nick Mason bezeichnet „The Endless River“ als ein Tribut an Rick Wright und hält es für eine Anerkennung dessen, was der Keyboarder einst gewesen ist und getan hat.

Das Album besteht quasi aus vier Teilen bzw. „Seiten“, die jeweils zwischen drei und sieben vom letzten Titel einmal abgesehen rein instrumentale „Songs“ enthalten. Richtige Lieder im herkömmlichen Sinne sind es nicht, vielmehr Song-Fragmente, Melodienbögen oder auch lose Improvisationen. „The Endless River“ ist ein 53minütiger Melodienfluss, eine Soundcollage. Ein Fluss beginnt an seiner Quelle, und in diesem Fall heißt dieses Quelle ‚Things Left Unsaid‘. Unausgesprochen bleibt auf einem Instrumentalalbum naturgemäß eine ganze Menge, und so steigen wir langsam mit sphärischen Klängen und ein paar Samples (zusätzliche Keyboards von Bob Ezrin) in das Album ein, tauchen hinab in diesen endlosen Fluss. David Gilmour überrascht mit einigen fast ethnischen Klängen aus einem E-Bow, die sich fast wie eine Improvisation über Richard Wrights 1993 aufgenommene Hammond-, Keyboard- und Synthieflächen legen. Beim sich direkt anschließenden Track ‚It’s What We Do‘ setzt dann auch Nick Mason am Schlagzeug mit ein – allerdings relativ dezent. Sanft und immer noch relativ sphärisch, beinahe schwebend gleitet der Fluss durch die Weite und weckt Erinnerungen an Alben wie ‚Dark Side Of The Moon‘. Dominiert wird der Track von Gilmours typisch singender Gitarre und einigen Keyboard-Spielereien.

„Side 2“ beginnt mit einer längeren Soundcollage am VCS3 Synthesizer, in die sich schnell Orgelklänge mischen. Die Gitarren wird jetzt etwas härter und bietet uns auch ein paar schöne Soli. Wie schon zuvor bleibt die Musik in einem steten Fluss, und hier genau liegt auch das Problem des Albums: Immer wieder hat man den Eindruck, als seien verschiedene „Flicken“ bzw. vermutlich einst als Elemente noch zu schreibender Songs gedachte Passagen zu einem Ganzen zusammengebastelt worden, das zwar durchaus homogen ist und auch eindeutig nach Pink Floyd klingt, aber insgesamt mit leider zu wenig Höhepunkten vor sich hin plätschert. ‚Anisina‘ startet dann endlich mit Gilmour am Piano und Gastmusiker Gilad Atzmon an Saxophon und Klarinette richtig durch und kann auch außerhalb des Albumkontext für sich als wunderschönes Instrumental bestehen, auch wenn es mit drei Minuten wie die meisten der Titel etwas kurz geraten ist.

Der dritte Abschnitt ist mit sieben Tracks am längsten und beginnt wiederum mit sphärischen Klangteppichen und dezent im Hintergrund prasselndem Regen. Mit dem zweiteiligen ‚Allons-Y‘ folgt zum Glück wieder ein Highlight. Bob Ezrins Bass erinnert hier an den Klassiker ‚Another Brick In The Wall Pt. 2‘, und so lehnt man sich wohlig mit geschlossenen Augen zurück und genießt. Momente wie diese retten das Album vor der Durchschnittlichkeit. Das Finale des dritten Teils bildet der Song ‚Talkin‘ Hawkin‘. Damit ist das Physikgenie Stephen Hawking gemeint, dessen Stimme als Sample im Song Verwendung findet.

‚Calling‘ und ‚Eyes To Pearls‘ plätschern wiederum eher ruhig vor sich hin, bevor mit ‚Surfacing‘ etwas mehr Tempo aufkommt und wir den langsam und stetig fließenden Fluss verlassen. Als letzten Track gibt es dann noch ‚Louder Than Words‘, den einzigen Song mit Vocals (geschrieben von David Gilmours Ehefrau Polly Samson). Gilmour übernimmt hier den Vocalpart und kann Roger Waters zwar nicht ersetzen, macht seine Sache aber doch sehr gut. ‚Louder Than Words‘ ist das Highlight, auf das wir gewartet haben, das „The Endless River“ dann doch zu etwas ganz Besonderem macht.

Das Album erscheint in einer Vielzahl verschiedener Versionen, zum Beispiel als Doppel LP im Gatefold mit Fotobooklet und unveröffentlichten Bildern der 1993er Aufnahmesessions, oder auch als CD mit Hardcover-Leinenrücken. Weiterhin gibt es eine Special Edition, ein Box-Set inkl. 24-seitigem Hardcover-Booklet mit unveröffentlichten Fotos sowie einer DVD mit dem 5.1 Surround Mix des Albums plus Stereoversion. Hier ist ebenfalls „Non-Album-Audio-Visual-Bonusmaterial“ enthalten, das exklusiv im Rahmen dieser Edition veröffentlicht wird. Dabei handelt es sich um sechs Videos (neben einigen Tracks des Albums auch weitere – relativ unspektakuläre – Songs sowie drei zusätzliche Audiotracks. Das Videomaterial zeigt Nick Mason, David Gilmour und Richard Wright 1993 im Studio und wurde lediglich in Standard Definition gedreht, so dass sich der Mehrwert der ebenfalls erhältlichen Blu Ray lediglich im noch höher auflösenden Mehrkanalton findet. Die Surroundmischung kann absolut überzeugen und lässt den Hörer noch mehr in diesen Fluss eintauchen.

„The Endless River“ ist in der Tat ein Album zum Abtauchen geworden, das bei jedem Durchgang wächst und mehr zu Entdecken preis gibt. Nüchtern betrachtet ist es ein interessantes progressives und auch experimentelles Album geworden, das jedoch ein wenig die ganz großen Melodien vermissen lässt und streckenweise gar zur Hintergrundberieselung verkommt. Es gibt immer noch große Momente und Highlights, keine Frage, aber die Herren Gilmour und Mason müssen sich doch die Frage gefallen lassen, ob dieser Output als nunmehr wirklich letzes Album der Legende Pink Floyd mehr schadet als hilft. Das sind harsche Worte, und ganz so schlimm ist es ja wirklich nicht. Interessante Soundspielereien, extrem viel Sphärenklänge, einige schöne Gitarrensoli – im Grunde ist alles vorhanden und von technisch hoher Perfektion. Resteverwertung? Ja, größtenteils ist es das. Aber diese Reste sind bei einer Band wie Pink Floyd immer noch äußerst hörenswert und vielschichtig, nur eben nicht der erwartete Überflieger. Der Fluch sind die eingangs erwähnten extrem hohen Erwartungen, die letztendlich nicht alle erfüllt werden konnten. Löst man sich von dieser Erwartungshaltung, darf man eintauchen in eine zu großen Teilen faszinierende Platte, einen sphärischen Fluss und das Vermächtnis einer ganz großen Rocklegende.

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