Neal Morse – ‚Gott ist meine Inspiration‘
Whiskey-Soda (W-S): Hey Neal, zunächst einmal herzlich willkommen in Deutschland und vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst, ein wenig mit uns zu plaudern.
Neal Morse (NM): Ich hab‘ Euch zu danken! Danke, dass ich hier sein darf.
W-S: Und danke, dass du nach Hamburg gekommen bist.
„NM: Oh, es ist immer wieder toll, in Hamburg zu sein. Mir gefällt diese Stadt sehr gut.
W-S: Mike Portnoy und du wart beide auf dieser Tour ziemlich erkrankt. Daher zunächst mal die Frage, ob es euch beiden wieder besser geht?
NM: Ja, ein Glück. Wir waren echt fertig. Mike musste in London ins Krankenhaus. Aber ja, danke, wir sind wieder fit.
W-S: Das ist gut und freut uns zu hören. Zunächst mal herzlichen Glückwunsch zum neuen Album „The Grand Experiment“, ein wirklich grandioses Stück Prog-Rock, wie wir finden.
NM: Vielen Dank. Es freut mich sehr, wenn es gut bei den Fans ankommt.
W-S: Das Album entstand ja, ohne vorheriges Songwriting direkt im Studio. Auf der Platte beginnt der erste Song ‚The Call‘ mit den Worten ‚Leave it all behind you / try to let it go / free the chains that bind you / let your heart go and follow the call‘. Kann man sagen, dass dies auch auf dich und die Band zutrifft? Habt Ihr bei dieser Herangehensweise alle Ketten gelöst, alle Konventionen hinter euch gelassen und das gemacht, was Euch in den Sinn kam?
„NM: Nun, diese ersten Textzeilen hat Bill Hubauer geschrieben. Ich hab den Text aber ein wenig geändert. Der Originaltext lautete in etwa ‚Leave it all behind you / time to let it go…‘ dann folgte ‚…and that love shine on us all‘. Ich erinnere mich nicht mehr genau. Auf jeden Fall haben wir’s geändert. Wir haben aber zunächst gar nicht geplant, das Album mit dieser Textzeile zu eröffnen, das hat sich vielmehr später so ergeben. Es war auf jeden Fall Bills Idee, den Song a cappella zu beginnen. Er musste uns dazu überreden, es so zu versuchen. Wir haben es also probiert, und es hat uns gefallen. Es war ein toller Anfang.
W-S: War das denn schon immer etwas, das du gerne mal machen wolltest? Ein Album aufzunehmen ohne vorheriges Songwriting?
NM: So etwas habe ich schon sehr lange machen wollen. Ich habe es immer wieder geplant, aber hatte dann Angst, nicht genug Zeit dafür zu haben. Wenn man so arbeitet, dauert es definitiv länger mit dem Album. Immer wieder wollte ich es machen, aber so etwas kostet mehr Zeit im Studio, und man braucht einfach auch viel mehr Zeit mit den anderen Bandmitgliedern zusammen. Jeder hatte ja auch andere Termine. Aber jetzt hat es geklappt, und es war wirklich eine interessante Erfahrung.
W-S: War das ganze Konzept also deine Idee?
NM: Wir haben alle gemeinsam darüber gesprochen. Randy (Randy George, der Bassist, Anm. d. Red.) hat mich schon vor Jahren darauf angesprochen. Er meinte, es wäre toll, wenn wir als Band mal ein Album gemeinsam direkt im Studio schreiben würden, so dass jeder seine Ideen direkt vor Ort einbringen kann.
W-S: Also brauchtest du die anderen auch gar nicht lange zu überreden, es auf diese Art und Weise zu machen?
„NM: Nein, sie waren alle sofort begeistert davon. Klar, für die Band bedeutete dies ja auch, dass jeder einzelne viel mehr Freiheiten hatte, sich musikalisch einzubringen. Jeder konnte im Studio direkt etwas dazu beitragen. Das ist etwas, was jeder Musiker gerne macht – direkt ein Teil der Entstehung zu sein, nicht nur einfach etwas zu spielen, das jemand anderes geschrieben hat. Von daher waren sie alle begeistert von der Idee. Und es hat uns allen großen Spaß gemacht.
W-S: Und wie ist das im Studio genau gelaufen? Habt Ihr einfach angefangen zu jammen, oder gab es spezielle musikalische Ideen?
NM: Manchmal haben wir es tatsächlich so gemacht, dass wir einfach angefangen haben zu spielen und geschaut haben, was dabei entsteht. Wir haben auch gemeinsam die eine oder andere Idee weiter entwickelt, die einer von den Jungs hatte. Das kann eine einfache Idee gewesen sein, oder ein Demo, das jemand schon mal aufgenommen hatte. Wichtig war, dass wir alles gemeinsam aufgegriffen und entwickelt haben. Eines Morgens wachte ich auf und dachte so zu mir: ‚Wow, was für ein großes Experiment machen wir hier gerade. Ich hoffe, es klappt alles‘. Und dann wurde mir klar, dass das ja ein cooler Titel für einen Song sein würde: The Grand Experiment. Ich lag da einfach so und sang vor mich hin: ‚It’s a grand experiment…da da dam….‘ (lacht) Ich fuhr dann ins Studio, und Bill war der erste, der da war. Wir haben es gemeinsam entwickelt. Es war zunächst ein ganz langsamer Song – sehr Keyboard-orientiert. Dann kamen Mike, Eric und Randy dazu. Sie wussten zuerst nicht so recht, was sie davon halten sollten. Ich glaub, es hat ihnen nicht gefallen. Aber dann hat Eric den Riff, den wir auf dem Keyboard entwickelt hatten, auf der Gitarre gespielt. Er hat es schneller und heavyer gemacht, und plötzlich waren wir alle begeistert. Der ganze Song ist dann innerhalb von nur einer Stunde entstanden.
„Drummer Mike Portnoy durchquert gerade den Backstage-Bereich und wirft im Vorbeigehen nicht ohne Stolz ein, dass er einen Teil der Melodie des Songs geschrieben hat.
W-S: Der Titelsong ist wirklich sehr eingängig, wenn man ihn einmal gehört hat, bekommt man die Melodie nicht wieder aus dem Kopf.
NM: Ja, das stimmt. Er wäre was für eine Single-Auskopplung, definitiv.
W-S: Der Song ‚Agenda‘ wiederum klingt ganz anders als der Rest des Albums. Es ist mehr ein Alternative-Rock-Song, nicht wahr?
NM: Ja. ‚Agenda‘ ist ein Überbleibsel, das es nicht auf mein ‚Songs From November‘ Album geschafft hat.
W-S: Ah, also gab es ja doch vorher geschriebenes Material!
NM: Ja, stimmt. Der Song ist ungefähr ein Jahr alt. Da habt Ihr mich erwischt (grinst). Er ist die einzige Ausnahme.
W-S: Aber vom Stil her hätte ‚Agenda‘ auch nicht wirklich auf die ‚Songs From November‘ Platte gepasst, oder?
„NM: Nein, nicht wirklich, das stimmt. Der Song passt besser auf das aktuelle Album, auch wenn er immer noch anders als der Rest klingt.
W-S: Wie lange hat es denn insgesamt gedauert, das neue Album aufzunehmen?
NM: Wir haben acht Tage gemeinsam verbracht. In der Zeit haben wir alles arrangiert und auch die Schlagzeugspuren aufgenommen. Und dann hat es mehrere Monate gedauert, die Overdubs aufzunehmen. Mit der ganzen Aufnahme und dem Abmischen hat es insgesamt etwa dreieinhalb Monate gedauert, das Album zu machen.
W-S: Für so ein ehrgeiziges Projekt sind dreieinhalb Monate aber recht kurz, oder?
NM: Ja, im Grunde lief alles sehr glatt.
W-S: Jetzt bist du mit der Band auf Tour, um das neue Material auch live zu spielen. Was können die Fans von der heutigen Show erwarten? Ist es ein anderes Feeling, als wenn du mit Transatlantic oder Flying Colors spielst?
NM: Ja. Jede Band hat ihr ganz eigenes Feeling. Ich denke, die Neal Morse Band hat ihren ganz eigenen Vibe auf der Bühne. Sag‘ Du es mir doch nach dem Konzert!
W-S: Darüber können wir reden. Nebenan spielen gerade Beardfish und eröffnen den Abend für euch. Kennt Ihr euch schon länger, und wie kam es zu dieser gemeinsamen Tour?
NM: Na ja, sie sind beim gleichen Label wie wir, also InsideOut. Ich kenne Beardfish schon sehr lange. Sie haben ja schon einmal für Flying Colors als Vorgruppe gespielt. Ich mag sie sehr gerne. Es sind tolle Musiker und sehr nette Menschen. Ihr aktuelles Album ist wirklich gut.
W-S: Im letzten Jahr warst du ja wirklich sehr fleißig. Du hast jede Menge Musik geschrieben und gespielt. Du hast ‚Songs From November‘ veröffentlicht und warst mit Transatlantic und Flying Colors unterwegs. Wo nimmst du die ganze Energie und Kreativität her? Und hast du überhaupt noch Zeit für andere Dinge als Musik? Hast du noch Zeit für die Familie?
„NM: Ja, schon. Meine Frau und meine Tochter kommen zum Beispiel am Sonntag nach unserer Tour nach Europa geflogen. Wir wollen in Österreich Skifahren gehen. Zwischendurch habe ich dann aber noch wieder ein paar Auftritte in Kirchen für Gottesdienste. Ja, ich bin schon viel beschäftigt, richtig. Aber ich versuche immer, mir Zeit für die Familie zu nehmen. Es ist wichtig, dass man da eine Balance findet. Meine Kraft kommt von Gott. Er ist meine Inspiration. Er treibt mich an, er macht mich kreativ. Er ist es, über den ich singen möchte.
W-S: Sprechen wir noch ein wenig über Musik im Allgemeinen und Progressive Rock. Wenn man sich so die Entwicklung anschaut und ansieht, was so im Radio läuft, denke ich, dass sich die Musik in der letzten Zeit stark verändert hat. In unserer schnellen Zeit und mit all den modernen Medien um uns herum, würdest du sagen, dass Musik heute anders wahrgenommen wird als noch vor 20 Jahren? Wird sie heute vielleicht nicht mehr so gewürdigt wie früher?
NM: Ja, ich glaube, dass da etwas Wahres dran ist. Ich würde sagen, dass Musik früher mehr noch als heute das Aushängeschild einer Kultur war. Das ist sie jetzt immer noch, aber nicht in dem Maße. Meine Kinder interessieren sich schon sehr für Musik, aber nicht unbedingt für meine Musik. Meine Tochter hört viel Pop. Sie liebt Taylor Swift. Ich glaube, der größte Unterschied zur Zeit, in der ich aufgewachsen bin, ist folgender: Heutzutage ist alles viel mehr in einzelne Genres eingeteilt. Du kannst in einem bestimmten Genre Millionen von Platten verkaufen, aber in einem anderen Genre bist du vollkommen unbekannt. Wenn früher jemand wirklich viele Platten verkauft hat, dann war er auch überall bekannt, die Leute wussten einfach alle, wer das ist. Heute ist das nicht mehr so. Die musikalische Landschaft hat sich verändert. Ich will damit gar nicht sagen, dass das schlecht wäre. Nein, es ist einfach nur anders als früher.
W-S: Wenn wir gerade von verschiedenen Genres sprechen: Die meisten Leute kennen dich sicher aufgrund von Spock’s Beard und deinem Schaffen in der Prog-Szene. Aber du hast ja auch andere Stile gemacht, auf ‚Songs From November‘ gibt es zum Beispiel Pop und sogar Country. Wo fühlst du dich denn selbst am heimischsten?
NM: Ich bin froh darüber, im Prinzip das machen zu können, wozu ich gerade Lust habe. Ich bin nicht auf ein bestimmtes Genre beschränkt. Wenn ich Pop machen will, mache ich Pop. Wenn ich Prog machen möchte, dann mache ich Prog. Falls ich ein Musical schreiben möchte, kann ich das auch tun.
W-S: Du hast ja schon Musicals geschrieben.
„NM: Ja, das stimmt. Sie sind nicht sehr bekannt. Manchmal wäre es schön, wenn es für spezielle Genres einen größeren Markt geben würde oder für einzelne meiner Projekte. Aber ich bin sehr glücklich, dass ich das machen kann, wozu ich gerade Lust habe.
W-S: Glaubst du, dass Progressive Rock im Vergleich zum Mainstream immer nur Musik für eine kleine Gruppe von Fans bleiben wird?
NM: Ich weiß nicht, man kann auch mit Prog eine Menge Leute erreichen. Progressive Rock hat schon ganze Stadien gefüllt.
W-S: Unsere Zeit ist fast um. Wenn die Tour jetzt bald vorbei ist und du wieder zu Hause bist, was willst du dann als nächstes machen? Gibt es schon Pläne für beispielsweise ein neues Transatlantic Album?
NM: Nein, das nicht. Aber es wird im Verlauf dieses Jahres noch ein Flying Colors Livealbum geben. Im Sommer wird noch mehr Livematerial veröffentlicht, zum Beispiel vom letzten Morsefest. Zum Ende des Jahres gibt es vielleicht ein paar Überraschungen…wartet es ab! Wie es dann 2016 weitergeht, weiß ich jetzt noch nicht. Aber ich bin sicher, dass es interessant bleiben wird.
W-S: Neal, möchtest Du zum Schluss noch ein paar Worte an die Leser von Whiskey-Soda richten?
NM: Ich möchte sagen, dass ich schon sehr lange immer wieder nach Deutschland komme. Ich habe hier viel erleben dürfen, und ich bin sehr sehr glücklich darüber. Ich mag Deutschland sehr gerne, und ich liebe die deutschen Fans. Vielen Dank an jeden einzelnen. Gott schütze auch alle.
W-S: Ganz herzlichen Dank für das Gespräch und viel Spaß heute beim Konzert, Neal. Pass auf dich auf.
NM: Danke! Wir sehen uns gleich beim Konzert.
Fotos, Interview und Übersetzung: Michael Buch
Den Konzertbericht findet Ihr hier