Dream Theater – Das große Erstaunen in Hannover
Der Kuppelsaal in der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover zählt zu den markantesten Bauwerken der Stadt und wird für eine Vielzahl von Zwecken genutzt, so unter anderem für die Eröffnung der Computermesse Cebit oder eben auch für (klassische) Konzerte. Dicke Säulen stützen die gewaltige Kuppeldecke über dem komplett bestuhlten Zuschauerraum, der über 2000 Plätze zählt und an diesem Freitag fast ausverkauft ist. Auf den oberen Rängen gibt es noch einige freie Plätze, als die Besucher – eine Mischung aus Metallern, Altrockern, Yuppies mit ihren Freundinnen und jeder Menge Normalos in Bandshirts – eine Stunde vor Beginn in die ehrfurchtgebietende Halle strömen. Nur Abendkleider sieht man heute dann doch nicht.
Im Foyer wartet bereits ein NOMAC auf die Gäste neben dem Merch-Stand mit den leicht überhöhten Preisen. Die sogenannten „Noise Machines“ spielen eine wichtige Rolle in „The Astonishing“, dem aktuellen Konzeptalbum der amerikanischen Prog-Metaller. Und genau dieses Doppelalbum werden die New Yorker heute Abend in Hannover in voller Länge vorstellen. Das Konzert fällt damit auch eher in die Kategorie „Multimedia Performance“ mit Live-Band, und das Ambiente der klassischen Konzerthalle wurde passend dafür gewählt. Es gibt keine Vorgruppe, es gibt eine 20-minütige Pause zwischen den beiden Akten, und natürlich schon besagte Sitzplätze. Hier steht niemand vor der Bühne, hier drängelt niemand, hier wird nicht getanzt oder gemosht. Das kultivierte Publikum nimmt im Parkett der runden Halle sowie auf den beiden Rängen Platz und wartet bedächtig auf die kommende Show. Auf der Bühne dominiert Mike Manginis gewaltiges Schlagzeugset, daneben wartet das dreh- und schwenkbare Keyboard von Jordan Rudess auf seinen Benutzer. Technik- oder Verstärkertürme wie bei früheren Shows des Traumtheaters sucht man vergeblich auf der aufgeräumten Stage. Rechts daneben in der kleinen abgeteilten Technik-Ecke sieht es allerdings aus wie im Kontrollraum der NASA.
Wie man es von Dream Theater kennt, ist der Abend bis auf die letzte Note präzise geplant. So geht es natürlich auch auf die Sekunde genau pünktlich um 20.00 Uhr los. Nach kurzem Intro-Text aus dem Off und dem eingespielten Opener ‚Descent of the Nomacs‘ erscheinen John Petrucci, Jordan Rudess, John Myung und Mike Mangini unter tosendem Applaus aus der Dunkelheit und legen mit der ‚Dystopian Overture‘ los. Die Orchesterparts auf dem Album wurden für die Show teilweise so neu arrangiert, dass sie von Rudess auf dem gewaltigen Keyboard gespielt werden können, kommen teilweise aber auch als Einspieler vom digitalen Band.
Hinter der Band erheben sich fünf gewaltige LCD-Displays, auf denen während der gesamten Show Film- und Videoclips und Animationen eingespielt werden. Diese sind aufwändig produziert und illustrieren die dystopische Geschichte des Konzeptalbums. Wir schreiben das Jahr 2285. Das „Great Northern Empire of the Americas“ wird von Lord Nafaryus angeführt. Von Menschen erschaffene Kunst und Musik sind in dieser Zeit verboten. Die bereits erwähnten NOMACs sorgen für die Unterdrückung und Kontrolle der Menschen und ihre Apathie. Doch ein Auserwählter wird kommen, der das „Gift of Music“ besitzt und die Menschen mit handgemachter Musik in eine neue Freiheit führen wird. Diese epische Geschichte um Musik, Verrat und natürlich auch Liebe wird auf „The Astonishing“ in rund 130 Minuten erzählt, und entsprechend weiß man genau, was heute auf dem Programm steht und welcher Song als nächstes gespielt wird. Die begleitende Lightshow und vor allen Dingen die Videoclips sind beeindruckend.
Nach der Ouvertüre kommt dann auch Sänger James LaBrie zu seinen Kollegen auf die Bühne: „Guten Abend, Hannover!“ Mit den Zeilen „Far in the distant future, beyond the pages of our time“ aus ‚The Gift of Music‘ nimmt er uns mit auf die Reise. Die ersten Augenblicke sind allerdings ernüchternd. In Kombination mit den Einstellungen am Mischpult und der Akustik der großen Konzerthalle erscheint die Stimme im Gegensatz zur Musik viel zu verhallt und matschig. Bei den ersten Songs entsteht so ein Klangbrei, der einer Band vom Formate Dream Theaters nicht würdig ist. Zum Glück bessert sich der Sound noch. Nach drei oder vier Titeln ist auch LaBrie perfekt zu verstehen und seine Stimme weit weniger verhallt. Zurücklehnen und genießen heißt es nun.
Die Dream-Theater-Maschine läuft wie geschmiert. Mit hohem technischen Aufwand und spielerischer Perfektion legt das Quintett eine beindruckende Performance hin, die naturbedingt wenig Raum für Interpretationen oder Interaktion mit dem Publikum lässt. Es gibt keine weiteren Ansagen, keine Soli, die nicht auf auch dem Album zu finden wären. „The Astonishing“ wird präzise und werkgetreu eingespielt. Die Show wird bei allen anderen Auftritten des Quintetts absolut gleich aussehen und klingen. Kurz vor dem Ende des ersten Akts kann man eine ganze Reihe von Headbangern in den ersten Reihen beobachten – im Sitzen!
Nach dem Intervall geht es mit dem zweiten Akt weiter, der als Animation auf den Displays bei ‚Heaven’s Cove‘ mit sehr stimmungsvollen Mondbildern aufwarten kann. Je weiter sich die Band dem großen Finale nährt, umso mehr geht jetzt auch das Publikum mit. Bei ‚Hymn of a thousand voices‘ wird sogar mitgeklatscht. Am Ende hält es niemanden mehr auf den Sitzen. Die Menge steht, als sich die Band mit dem Finale ‚Astonishing‘ in musikalischer Perfektion verabschiedet. Eine kurze Verbeugung zu den Standing Ovations, dann laufen die Endcredits über die Displays und beenden diese cinematische Erfahrung stilgerecht. Zugaben oder weitere Ansagen stehen heute erwartungsgemäß nicht auf dem Programm. Ganz am Ende nach dem „Abspann“ flackern die roten Augen eines NOMACs noch einmal auf. Gag, erfülltes Hollywood-Klischee oder Hinweis auf eine mögliche Fortsetzung? Das wohl nicht, aber Dream Theater dürfen nach dieser grandiosen Performance natürlich gerne wiederkommen. Die teils weit aus dem Umland angereisten Progger dürfen mit dem Abend sehr glücklich sein. Dass es hier nicht zu mehr Interaktion mit dem Publikum gekommen ist, war quasi zu erwarten und ist der hohen technischen Perfektion und sekundengenauen Planung dieser Show geschuldet. Wem dies bewusst war, konnte eine grandiose Progressive-Metal-Show in einmal völlig anderem Umfeld erleben. „The Astonishing“: Das Erstaunen, das Verwundern. Erstaunlich war es in der Tat.
Setlist Dream Theater, Kuppelsaal Hannover, 04.03.2016:
„The Astonishing“ (komplettes Doppelalbum in voller Länge)
Fotos: Jimmy Fontaine (Bandfotos), Michael Buch (Hannover)
An dieser Stelle noch einmal ein dickes Dankeschön an Target-Concerts, die uns den Besuch dieser Veranstaltung möglich machten.