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Das Rote Album

Ganz am Ende, noch jenseits des letzten Liedes, hinter einer Barrikade aus Stille geschieht es dann doch: Von Lowtzow wird sentimental. In ‚Date mit Dirk‘, wie das Stück womöglich heißen würde, wäre es auf der Tracklist verzeichnet, trifft er unter Waldquellplätschern, Vogelgezwitscher und Todesfugen-Zitaten auf sein jüngeres, löwenzahnweinseliges Selbst. Ein passgenaueres Biotop als den klassischen Hidden Track hätte er sich kaum aussuchen und unsereins sich kaum vorstellen können. Doch dann der Schrecken – der Moment, in dem das eigene Ich sich zum Albtraum verwächst:

‚Auf seinem Kopf tanzen Schlangen und Plasma wächst aus Dirks Hand.‘

Au weia!

Mit chirurischer Genauigkeit hängt Von Lowtzow Wort an Wort. Man kennt es, man schätzt es. Tocotronic vereinbaren aktuell Liebe mit Politika und traditionsgemäß verwinkeltes Gedankengut mit biederen Reimschemata. Mit wonnigem Gefühl im Bauch begegnet man den Versenden, um mal in seiner Erwartung bestätigt, mal völlig auf dem falschen Fuß erwischt zu werden, wenn Von Lowtzow süffisant jene Begrifflichkeiten prononciert, die er nur und ausschließlich nach einem langen Auswahlverfahren aus den unermesslichen Tiefen seines passiven Wortschatzes geborgen haben kann. Wohin man auch blickt, sieht man vor lauter Sahne die Torte nicht; es regiert für Sie: die tocotronische Hochsprache – reflektiert, exaltiert, zitatwürdig. Das überschwängliche Hofieren jeder einzelnen noch so verschluckungsgefährdeten Silbe ist hierin denkbar schnell erklärt. Tocotronic fühlen sich überlegen; im Denken, im Texten, in Bildern.

Und deshalb werden sie großzügig, erklären ‚Ich Öffne Mich‘ im so betitelten Song, einem breitproduzierten Pop-Protz, der sich einem unverzüglich an den Hals schmeißt und ein für unsingbar gehaltenes Wort wie „gänzlich“ unwiderstehlich weich klopft. An anderer Stelle überspitzen es die Tocos, verteilen ‚Solidarität‘ und treiben einem mit überkandidelten Streichersätzen die Tränen in die Augenwinkel. Because they can.

Schneller als einem eigentlich lieb ist geht das Rote Album in Fleisch und Blut über. Vor die Wahl, ob einen die Platte nun verfolgen soll, wird man gar nicht erst gestellt – man kann sie bereits vorher auswendig – ganz ähnlich wie beim bizarren Zweisamkeitsgefühl im Stück ‚Haft‘ (

‚Ich hafte an dir / Wie die Blicke, die ich spür‘ / Auf den Displays neben mir / Hafte ich an dir‘

). Das ist ja das Fiese an Tocotronic: Ihre Lyrik vereinnahmt, bevor man sie auch nur im Ansatz entlarvt zu haben glaubt. Die wissen genau um ihre Wirkung. Die wissen, dass sie das Unsingbare singbar machen, und gerade das ist es, was ihren Hörer in diese eigenartige Sorte Ohnmacht stürzt.

Hätte die Band nicht selbst die Vorlage gegeben, würde vermutlich heute niemand so lapidar vom ‚Roten Album‘ sprechen. Es wäre zu einfach, zu naheliegend. Zu beliebig mit Rücksicht auf die Akribie, die das Quartett in diesem nur äußerlich monochromen Werk verbaut hat. Oder auch nicht:

‚Ich will keine Treueherzen / Kannst du mir Liebe geben?‘

, fragt der ‚Rebel Boy‘, eine Art vornehmer Punk, und bekennt sich damit der schwächsten Zeilen des Albums schuldig. Am Anfang war da noch der ‚Prolog‘: musikalisch mehr Metronom als ernster Gegner, lyrisch aber herrlich spitzfingrig und scharfkantig. Und dann stemmten Moses Schneider und Markus Ganter die Angelegenheit der Sonne entgegen.

Was bleibt, ist ein vollmundiges Album vom Altern und – manchmal etwas angestrengtem – Jungbleiben, zum Schwelgen und Zitieren, Liebgewinnen und … verdammen. Sobald man es einmal zu oft gehört hat. Aber das sind eben Tocotronic.

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