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Abyss

‚When I move it pulls me closer / When I swim it drags me under / When I dream it steals my wonder / Set me free from my slumber / Stare it down, the abyss‘

The Abyss

Wenn das Bewusstsein aus dem Schlaf in die Wachphase übergeht, den Körper aber dort zurück- und mithin der völligen Atonie überlässt, wächst sich etwas ganz Natürliches zum Horror aus: Man ist gefangen im eigenen, erstarrten Körper, projiziert, wenn es ganz blöd läuft, gar Trauminhalte ins offene Sichtfeld und ist ihnen vollkommen ausgesetzt, festgenagelt an der Schwelle, wo Traum und Wirklichkeit ineinander verlaufen und die Wahrnehmung des Menschen verhöhnen.

Oder aber ihn zu großartiger Musik inspirieren: Chelsea Wolfe etwa, die schon immer das Gebrochene im Perfekten und die Anmut des Unvollkommenen bestaunte, haben die Schrecken der Schlafparalyse in ihre bislang umwerfendste Séance getrieben, untermalt vom schweren Dröhnen bis zur Unkenntlichkeit verzerrter Gitarren, dem geisterhafte Flirren zwischen den Bratschensaiten und einem reißenden Echo aus den Tiefen des eigenen Bewusstseins, genannt: Abyss.

Damit hat Wolfe sich einen Freibrief ausgestellt für den Einsatz jedweder Effektmaschinerie, die Implementierung zahlreicher Störgeräusche und Übergriffe aus scheinbaren Parallelsphären. So schaukeln sich kontrollierte Melodien auf zu entstellten Kakophonien – und aus schlierigen, vagen Noise-Artefakten erwachsen zerstörerische Drone-Donnerschläge, denen Wolfe in gespenstischer Zungenrede entgegentritt. ‚Abyss‘ ist ein Tauziehen mit dem ureigenen, wütenden Wahnsinn einerseits, ein heilloses, delirisches Irren durch die Leere andererseits. Lichter erglühen am schwarzen Horizont und erlischen, Nebel wallt auf und verfliegt, nichts ist von Dauer, aber alles von äußerster Beklommenheit. Zerbrechlich wandelt die Darkfolk-Nymphe durch die Schleier, bis sich ein wucherndes Narbengeflecht aus verzerrten Gitarren über die Szenerie zieht. Eingespielt hat sie Mike Sullivan von Russian Circles, auf deren letztem Album Chelsea Wolfe als kongeniale Gastsängerin zu hören ist. Die Revanche zeigt: Da stimmt noch immer die Chemie, zwischen wuchtig und wehmütig, zwischen Post-Metal und Düsterfolk. Dass Produktions-Ass John Congleton sich in Ausübung seines Amtes hieran über die Maßen erlabt haben muss, steht außer Zweifel.

So unterschiedlicher Trickgriffe aber diese Songs sich auch bedienen mögen: Sie alle erzählen Geschichten vom Fallen, vom Hinabreißen und Verschlungenwerden. Diesem diabolischen Abwärtsstrudel eben, dessen Sog Chelsea Wolfe nun abermals anfacht, weil sie sich eigentlich genau dasselbe ersehnt wie ihre Hörer:

‚Sometimes I want to / lose my mind / Lose myself to something / To someone else / Won’t you take me down?‘

‚I will!‘, grollt es aus der Tiefe. Und wenn am Ende alle gesprungen sind, hat das Jenseits freie Hand, greifen die Dämonen der Dissonanz nach Bratsche und Klavier, dem Meisterstück einen Epilog anzuheften, der ihm würdig ist. Einen, der sich einnistet. Umhergeistert. Und den Abgrund alsbald wieder hungrig stimmt.

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