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Systemstörung – Die Geschichte von Noise Records

Die Geschichte des Berliner Noise-Labels ist ganz klar hervorragender Stoff für ein Buch. DIY-Methodik in Reinkultur, die Metal-Revolution der Mittachtziger, legendäre Bands, unverdiente Flops, Gerichtsverhandlungen, kreative Höchstleistungen wie fatale Fehltritte – bei Noise war mehr geboten als in einer Durchschnittsstaffel GZSZ! Der amerikanische Blogger und Journalist David A. Gehlke hat nun die History des Labels und seines Leiters Karl Ulrich Walterbach mit „Systemstörung“ (im Original: „Damn The Machine“) niedergeschrieben.

Zwei Jahre, in denen Gehlke mit dem Großteil der Protagonisten Interviews geführt hat, war das Teil in Arbeit. Dank des Artworks, welches unübersehbar von Away (Voivod) gestaltet wurde, kommt schon optisch gleich vertrautes Feeling auf, und Hansi Kürsch von Blind Guardian hat ein Vorwort verfasst. Auch der Umfang des knapp 500 Seiten umfassenden Schmökers sorgt für respektvolles Nicken. Wirklich schade, daß es keine Hardcoverauflage davon gibt. Aber, das Wichtigste ist ja nicht der Einband, sondern das, was dazwischen liegt.

Und da hat „Systemstörung“ leider Gottes eine ganze Menge Schwächen. Das beginnt damit, daß der Autor sich keinerlei Erzählstruktur bedient, sondern nach einer biografischen Vorstellung von Walterbach bis zur Labelgründung die – seiner Meinung nach – relevantesten Noise-Bands vorstellt, seltsamerweise teilweise inklusive ausführlicher Song-für-Song-Albumrezensionen. So entsteht zu keiner Zeit ein Lesefluss, man bekommt eher das Gefühl, sich durch diverse Webseiten zu klicken. Erst im letzten Drittel wird die Sache halbwegs strukturiert – allerdings handelt es sich dabei um die Zeit in den späten 1990ern, wo Noise schon lange nicht mehr das innovative, Ein-Mann-Eine-Nase-geführte Kult-Label waren und die meisten großen und wichtigen Acts längst aufgelöst oder zu anderen Labels abgewandert waren.

Das könnte man freilich verschmerzen, wenn da nicht das größte Manko wäre. Gehlke erwähnt schon früh, daß aus Platzgründen natürlich nicht alle Bands des Labels Erwähnung finden könnten. So weit, so gut und nachvollziehbar – doch statt den Versuch zu unternehmen, das damalige Label-Roster möglichst breitgefächert zu präsentieren, nervt stattdessen relativ schnell die unverhältnismäßige Heldenverehrung des Schreibers für Celtic Frost. Wenn alleine über deren „Cold Lake“-Album satte 26 Seiten schwadroniert wird, aber eine kommerziell durchaus erfolgreiche und relevante Band wie Sinner mit gerade mal drei Sätzen (!) als reine Obskurität abgetan wird, dann ist das schlicht und einfach ignorant. Fragwürdige Behauptungen wie z.B., daß Helloween in den 1980ern zwar die kommerziellen Zugpferde gewesen seien, aber Celtic Frost die Band seien, die heute noch jedem bei Nennung des Labelnamens einfallen würden, nötigen wohl jedem Achtziger-Fan maximal ein Lächeln ab – speziell, wenn klassische Noise-Underground-Helden wie Tyran Pace, Deathrow, Vendetta oder Warrant maximal als Fußnoten geführt werden. Warum auch noch Hammercult mit einem ganzen Kapitel gehuldigt werden muss, die mit Noise Records überhaupt nix am Hut haben, muss man auch nicht verstehen. Sehr kindisch auch, daß der Autor ständig in überheblicher Art über die Glam-Szene, den Grunge und Traditions-Metaller wie Judas Priest, Accept und Scorpions lästert. Da möchte man dem Autor ein fröhliches „Werd‘ erwachsen!“ zurufen…

Einige der schillerndsten und bisweilen tragischsten Gestalten der Noise-Ära werden aufgrund ihrer kommerziellen Erfolglosigkeit hingegen vom Autor komplett ignoriert. Statt der x-ten Thomas Fischer-Huldigung hätten beispielsweise die damals vielgescholtenen, schrägen Teutonen-Metaller S.A.D.O. mit Sicherheit eine interessantere Story zu erzählen gehabt. So wird beispielsweise in einem Nebensatz erwähnt, daß deren Nachfolgekombo V2 damals ans Majorlabel EMI verkauft wurde, um die Schulden von S.A.D.O. zu decken und EMI die Band daraufhin schlicht verrecken ließ. Mit Sicherheit hätten die Musiker ein paar interessante Geschichten über diese höchst unsoziale, aber für die damalige Zeit nicht unübliche Business-Aktion zum Besten geben können. Ebenso wie die nach einem einzigen Album komplett in der Versenkung verschwundenen, vollkommen überkandidelten Münchner Helter Skelter, die mit „Welcome To The World Of Helter Skelter“ und ihrer Mischung aus Bubblegum-Glam und ultracampigem Humor den vermutlich schrägsten Act der Labelhistory darstellten – und den einzigen Noise-Vorstoß in den Glamrock.

Dazu kommen noch viele Wiederholungen, einige Widersprüche (siehe z.B. das Voivod-Kapitel und die Äußerungen zu Helloweens aktueller Reunion) und ganz schlichte faktische Fehler. Pretty Maids haben niemals ein Album namens „Red Hot And Ready“ veröffentlicht, und vom englischen Synthiepop-Duo „Eraser“ hat mit Sicherheit auch noch niemand was gehört – von Erasure wohl schon eher. Seine Jahreszahlen bringt Gehlke auch immer mal wieder durcheinander, was bei Lesern, die sich mit der Materie nicht bereits einigermaßen auskennen, für jede Menge Verwirrung sorgen dürfte.

Einerseits ist es natürlich schön und überfällig, daß sich überhaupt jemand dem Phänomen Noise Records angenommen hat. Andererseits ist die tatsächliche Umsetzung in vielen Aspekten eher mangelhaft ausgefallen. Statt eines umfassenden Porträts eines einflussreichen Labels und seiner zahlreichen Kultacts, die den europäischen und speziell deutschen Underground-Metal in seiner Aufbruchszeit in den 1980ern geprägt haben wie wenige Andere, bekommt man hier ein paar interessante Interviews mit teils eher schlampig recherchierten Essays über die vom Autor als relevant eingestuften Labelacts. Schaut lieber mal bei Mami und Papi nach, ob die nicht noch im Keller ne Kiste mit alten Rock Hard- und Metal Hammer-Heften rumstehen haben, damit bekommt Ihr ein weitaus besseres Bild dessen, was Noise so innovativ und speziell gemacht habt als mit „Systemstörung“.

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