Rise
00er-Jahre, WinXP, Instant-Messenger und da war es auch schon in die Hose gerutscht, das pubertierende Herz. Jessica93, von der im Grunde niemand wusste, ob sie tatsächlich Jessica hieß, in echt auch so cute aussah wie auf ihrem so genannten Avatar, lila Unterwäsche und 70D trug oder womöglich gar noch wenige Tage zuvor mit anderen Usern auf andere Weise – gelinde gesagt – angebandelt hatte. Ob Jessica93 wohl auf 69 stand? Oder in Wirklichkeit doch noch Jungfrau oder gar von 1993 – sprich: minderjährig – war? Und ob sie sich jetzt, da der Kontakt der Kontakte hergestellt war, wohl auch noch eine Webcam anschaffen und einem fortan allabendlich ihre Tanks vor die Linse klatschen würde? Heißa, was wäre das … – wie sagte man damals? Steil?
Wen interessiert’s – wir haben 2015, Facebook regiert die Welt und entblößen tun sich ja jetzt eh alle als die, die sie sind. Jessica93 ist von der Bildfläche verschwunden, war wahrscheinlich nie real (beziehungsweise nennt sich jetzt „Jessi Ca“), ist recycelt und verdingt sich als Name einer Band, die wohl irgendwie an den verkehrten Namen geraten sein muss. Tja.
Stilistisch bewegt sich das releasestarke Projekt von Geoffroy Laporte auf ‚Rise‘ wiederholt zwischen Shoegaze, Post-Punk und Garagenrock – so verlässlich oder unverlässlich es eben geht. Das hier ist Musik der kratzbürstigen, unruhigen Sorte, mit repetitiven Rhythmusbausteinen, schiefen Motiven, kaltschnäuzigen Effekten und hier und da der vagen, flirrenden Fata Morgana eines Riffs. Ein paar Texte intoniert der gesanglich – das weiß er bestimmt selbst – eher in Maßen begnadete Franzose obendrauf. Musik, in der man sich verlieren kann – allerdings wahrscheinlich nicht so, wie es die Band gern hätte. Es hat nämlich den Anschein, als stagniere die Entwicklung der Stücke im Laufe des Albums zusehends. ‚Asylum‘ proportionierte noch, ‚Karmic Debt‘ akzentuierte – nicht zuletzt aufgrund des stellenweise unbequem langgezogenen Gesangs. Spult man sich aber durch das achteinhalbminütige ‚Inertia‘ oder seinen nicht bedeutend kürzeren Vorgänger, ist ziemlich gleichgültig, an welcher Stelle man wieder in den Song einsteigt, denn der Anschluss gelingt dank mindestens einer starrsinnig um sich selbst kreiselnden Instrumentalspur garantiert immer. Ein Manöver, das sich beliebig oft wiederholen lässt, ohne dass einen auch nur einmal das Gefühl beschliche, man könnte etwas verpasst haben. Und das die teils üppig bemessenen Spielzeiten recht schnell als unschöne Laufmaschen entlarvt.
‚Rise‘ kommt nicht über das Level einiger guter Einfälle hinaus. Einfälle, die man zu lange sich selbst überlassen, auf halbem Wege festgesetzt und zu einem Studioalbum verwurstet hat, dem im Ergebnis – wenig überraschend – dann die letzte Konsequenz abgeht. Und siehe da – der Kreis schließt sich. Denn mehr als ein guter Einfall, eine fixe Idee war auch Jessica93 damals nicht gewesen, als man ihr in selbstverordneter Retortenromantik hinterhersurfte und von aufgebauschten Erwartungen beseelt zu einem Date lud, zu dem sie nie erschien, weil … na ja, ihr könnt es euch denken.