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Mental Jewelry

Verliert eine Band ihren Sänger, bedeutet das meist das Ende. Marillion werden trotz durchgehend erstklassiger Alben immer noch von vielen Hörern auf die seit fast dreißig Jahren beendete Fish-Ära reduziert, Queen ohne Freddie Mercury (und John Deacon) sind nur mehr eine gute Coverband, und obwohl unter Tony Iommis Regie ein gutes Dutzend großartiger Black Sabbath-Scheiben ohne Ozzy Osbournes Beteiligung entstanden, schaffte erst das – öde! – „13“-Album es, die Band wieder nach ganz oben zu katapultieren, weil eben erstmals seit 1978 Ozzy wieder sang.

Die Versuche von Live, ohne Sänger und Hauptsongwriter Ed Kowalczyk Fuss zu fassen, muteten denn auch reichlich blass an. Genauso war der Sänger aber auch ohne seine Band verloren. Seit Ende 2016 haben sich die Gemüter nun wieder beruhigt, und Live und Kowalczyk machen wieder gemeinsame Sache. Um die Wiedervereinigung von Kopf (Kowalczyk) und Seele (die Band) zu feiern, wird nun mit „Mental Jewelry“ das Debütalbum der Band als Deluxe-Doppel-CD wiederveröffentlicht. Und die lohnt sich auf jeden Fall auch für die Fans, die das Originalalbum bereits im Schrank haben. Nicht unbedingt wegen des Remasterings, „Mental Jewelry“ klang nämlich auch schon im Original ziemlich knorke. Nein, eher wegen der satten siebzehn (!) Bonustracks, die das Rerelease aufwerten. Darunter die beiden nicht auf dem Album enthaltenen Stücke der „Four Songs“-EP, das unveröffentlichte (aber oft gebootlegte) ‚Born Branded‘ sowie der komplette Mitschnitt des Konzerts im Roxy im July 1992, von dem ein paar Songs bereits auf der ‚Operation Spirit‘-Single enthalten waren und der mit ‚Susquehanna‘ einen weiteren komplett unveröffentlichten Song enthält. Lediglich der ‚Club Remix‘ von ‚Pain Lies On The Riverside‘, bekannt von der ‚Lakini’s Juice‘-Single, ist verzichtbar ausgefallen, aber hier regiert eben die Vollständigkeit. Ed Kowalczyk hat neue Liner Notes verfasst, und lobenswerterweise gibt es, bei Reissues mittlerweile alles andere als selbstverständlich, sämtliche Texte inklusive denen der Bonustracks im Booklet zu begutachten.

Musikalisch war die Band auf ihrem offiziellen Debüt noch ein wenig am Suchen. Die perfekte Schnittmenge von R.E.M., Pearl Jam und U2, die die Band auf dem Zweitwerk fand, ist zwar durchaus schon im Entstehen, speziell in den emotionalen Melodielinien, aber die Gitarren bleiben zum größten Teil clean, und der Bass spielt meist funkige Slap-Figuren, wie sie dank der Red Hot Chili Peppers, Faith No More und Living Colour zur damaligen Zeit auch in der Rockmusik zum Standard wurden. In den USA wurden bereits ‚Operation Spirit‘, ‚Pain Lies On The Riverside‘ und ‚The Beauty Of Gray‘ von „Mental Jewelry“ zu Hits, international schaffte die Band aber erst mit dem Nachfolger „Throwing Copper“ und Hits wie ‚I Alone‘, ‚Selling The Drama‘ und ‚Lightning Crashes‘ den Sprung in die erste Reihe. Wer also Songs wie ‚Waterboy‘, ‚Mirror Song‘ oder ‚10.000 Years‘ hier erstmals entdeckt, wird sich wundern, wie frisch die Scheibe trotz erwähnter typischer Frühneunziger-Elemente heute noch klingt. Und auf der Live-Disc legt die Band nochmals eine gute Schippe an Intensität drauf. Live hatten eben, wie erwähnt, eine gewisse gemeinsame Magie, die speziell bei Livegigs zu Tragen kam und selbst harte Realisten zweifeln ließ, ob an den esoterischen und spirituellen Textinhalten nicht vielleicht doch irgendetwas dran sein könnte. Diese Atmosphäre bringt der Mitschnitt überzeugend und schweißtreibend ins heimische Wohnzimmer, speziell wenn ‚10.000 Years‘ dank beherzter Jams auf knappe neun und ‚Good Pain‘ auf über zehn Minuten ausgedehnt werden. Die 66 Minuten Livematerial hätten auch als Standalone-Release absolut Sinn gemacht, als Bonus sind sie schlicht die Kirsche auf dem Kuchen.

Ein absolut gelungenes Rerelease, das definitiv Lust auf die kommenden Aktivitäten der Band macht. Das letzte Wort überlasse ich aber Ed Kowalczyk selbst: „People have always said to us, ‚You’re so serious!‘ I tell them, ‚But we’re seriously inspired!'“

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