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Ink

Die Frage und Diskussion, was progressive Musik überhaupt ausmacht ist wahrscheinlich so alt wie die Stilrichtung selber, die in den 60er Jahren in England ihren Ursprung nahm. Im Sinne der eigentlichen Bedeutung des Wortes muss man aber konstatieren, daß es eigentlich gerade nicht um bestimmte stilistische Merkmale gehen kann. Es sollte darum gehen, Grenzen und Erwartungen zu sprengen, das zu tun, was man wirklich möchte. Fortschritt. Ohne Kalkül auf das Publikum oder den kommerziellen Erfolg zu schielen. In diesem Sinne sind die sechs Jungs von Pervy Perkin aus Spanien progressiv im Besten Sinne, was sie im Interview mit uns auch bestätigt haben. Ihr bereits vor einem Jahr erschienenes Doppelalbum „Ink“ mit sage und schreibe 147 Minuten Spieldauer ist ein so übersprudelnder Quell von wundervollen Ideen, Klängen, Emotionen und Stilen, daß es schwer in Worte zu fassen ist.

Oder was soll man sagen, wenn ein Prog-Rock/Metal-Album mit einem Intro startet, das aus einem Italo-Western sein könnte, inklusive Bläsern und einem klagenden, weiblichen Sopran? Mit ‚Of Echoes And Reflections‘ folgt direkt ein 12-Minuten-Monument von einem Song, der mit Meeresrauschen und Möwen sowie einem monumentalem Chor aufwartet. Und noch mit viel, viel mehr. Ein Bass-Solo, Metal-Klangteppiche, Power-Metal-Pitches, schicke Flinkefinger-Gitarren-Solos, bombastische Riffs, die erneut auf einen Männerchor treffen und, und, und. Man könnte sagen, daß man hier direkt in zwölf Minuten einen Vorgeschmack auf die schier unbeschreibliche Vielfalt des Albums bekommt. ‚New Dawn‘ verbindet Flamenco-Rhythmen mit Metal Riffs und bedrohlich-theatralischem Gesang, mal mehrstimmig, mal einstimmig. In ‚The Tree In The Sky‘ präsentieren sich die Spanier als Free-Jazz-Improvisateure, jedenfalls klingen die ruhigen Flötentöne streckenweise so. Zumindest bis gelegentliche E-Gitarren-Riffs und Blastbeat-Eruptionen die Erwartungen des Hörers einmal mehr ins Leere laufen lassen. ‚Peanut Butterfly‘ verbindet asiatische Saiten- und Tastentöne mit proggigen Metal-Riffs und schrägen Rhythmuswechseln. ‚The End Of The Beginning‘ beginnt mit einem schleppenend-doomigen Riff, die sich auf harmonische Weise mit bombastischen Orgeltönen verheiraten. Und einmal mehr kommt das, was man erwartet. Nicht. Das Stück entpuppt sich im Kern als eine psychedelisch anmutende Hommage an den Rock der 60er Jahre, streut aber das eine oder andere akustische Überraschungsei mit ein.

‚Morphosis‘ dauert sage und schreibe 26 Minuten und trägt nicht nur deshalb das Schild „Prog“ vor sich her. In der knappen halben Stunde verheiratet das Sextett bluesige Rhythmuen mit Prog-Rock-Keyboard und mehrstimmigem Gesang, der deutlich an Powermetal erinnert. Vor allem aber zeichnet sich der Titel durch ungewöhnlichen Taktarten und Rhythmuswechsel aus, wie sich das für eine Prog-Band, die etwas auf sich hält, gebührt. ‚Asleep In A Wormhole‘ ist zu Beginn schrill, dann pendelt sich der Gesang irgendwo zwischen Pearl Jam und den Beatles ein. ‚Shades under a City Lamppost‘ besticht mit spacigen-asiatischen Keyboard-Electronica-Klängen und neoklassischen Piano-Improvisationen. ‚S!urm‘ flirtet mit Folk-Rockigen, mehrstimmigen Gesängen und eingängigen Gitarrensoli. Der letzte dicke, echte „Prog-Happen“ ist ‚T.I.M.E.‘. Eine 21-minütige, melancholische Liebesballade. Sanft gesungen, mit vielen ruhigen, akustischen Gitarrenparts – zumindest zu Beginn. Denn eines ist zum Ende dieses Albums sicher: Konventionelle Erwartungen werden bei Pervy Perkin nicht beachtet. Der Song driftet in einen Progressive-Metal-Song über, inklusive Growls und Düster-Feeling um dann wieder zurück zu beinahe meditativen Tönen schwenken, die gegen Ende sogar etwas Jazz-Attitüde ausströmen. Eine emotional-akustische Achterbahnfahrt par excellence!

Was die Jungs von Pervy Perkin auf die Beine gestellt haben, ist ein Meisterwerk an Kreativität – daran gibt es schlicht keinen Weg vorbei. Jedes Instrument hat viel Raum, auch der Gesang in den unterschiedlichsten Variationen von Chören, mehrstimmgen Shouts bis hin zu Growls. Umso verwunderlicher, daß man im Gesamten dennoch den Eindruck erhält, daß der Gesang zumindest nicht im Vordergrund steht. Das liegt schlicht an der instrumentalen und stilistischen Vielfalt von „Ink“. Emotionen werden an allen Ecken und Enden spürbar – und zwar jede, die man sich denken (oder fühlen) kann. Wenn man dann noch bedenkt, daß es sich hier um ein in Eigenregie produziertes Debütalbum handelt, muß man auch den möglicherweise einzigen Kritikpunkt weniger stark gewichten. Die enorme Heterogenität des Albums macht es wirklich sehr schwer fassbar, einen roten Faden zu erkennen. Aber mit so einem Potential kann das beim nächsten Mal auf jeden Fall noch klarer und runder werden. Neue Songs sind schon in Arbeit, wie uns die Jungs im sympathischen Interview mit ihnen verraten haben. Dieses Album ist ein fantastischer (Noch)-Geheim-Tipp. Vermutlich mit das Beste, was der in Spanien besonders starke europäische Prog-Underground gerade zu bieten hat. Die Jungs sollte man im Auge behalten, sie werden der Musikwelt noch viel Freude bereiten. Absolute Pflichtlektüre für Prog-Liebhaber und auf der Bandcamp-Seite der Band umsonst zu haben!

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