|

Ich

Fangen wir doch einmal mit einer ketzerischen Frage an: Warum hatten Unheilig so einen unfassbaren Erfolg – der weitaus größere, ältere und legendärere Joachim Witt aber nicht? Deutscher, tiefer, angenehmer Gesang, ziemlich bis extrem nachvollziehbare Melodien mit nicht zu harten Gitarren und verschiedenen Synths – rein theoretisch könnte man von den Zutaten her annehmen, dass der Erfolg beiden zu gleichen Teilen beschieden sein sollte.

Dass dem nicht so ist mag möglicherweise an dem liegen, was Witt textlich auffährt. Im Gegensatz zum unheilig-abartigen Herzschmerz auf RTL2-Niveau verfügt Joachim Witt nämlich tatsächlich über Geberqualitäten als Poet. Zumindest schafft er es immer, ohne Blatt vor dem Mund und mit direkten Worten das zu erzählen, was ihm auf der Seele brennt. Und mit dem logisch betitelten ‚Ich‘ treibt er diesen Weg auf die Spitze. Zunächst aber fällt auf, dass das Album relativ zurückgenommen produziert ist, Witt die verzerrten Gitarren mächtig zurückgefahren hat und lieber mit chansonesken Elementen arbeitet, vieles ist sehr verspielt, fast experimentell. Ein – fantastischer – Song wie ‚Hände Hoch‘ jedenfalls mischt 70er Porno-Orgeln mit akustischen Dark Folk-Gitarren und einem nahezu squaredancekompatiblen Stampfrhythmus. Textlich haut Witt hier alles raus, was er kann: „

Doch Du hälst an Deiner Linie fest / Das gibt den anderen erst so richtig den Rest / Sie könnten kotzen! / Sie lästern gern und lachen Dich aus / und werfen Deine Bücher zum Fenster raus….. Unverzagt…..hinterfragst….Du die Welt nach dem Sinn / Hände hoch und über den Kopf! / Du wirst die Wahrheit nicht verdreh’n / und jetzt / vergiss deinen Text / du wirst im Shitstorm untergeh’n.

“ Das ist Joachim Witt in bärbeissigster Reinkultur. Zynismus und Sarkasmus verbindet sich mit einer Bestandsaufnahme des Künstlerlebens wie sie so lang nicht mehr war. Das ist deutsches, sozialkritisches Chanson, was Witt hier macht.

Er zeichnet dabei für alles verantwortlich, nicht nur für Texte und Musik sondern auch für alles, das mit der Produktion zu tun hat. Und er macht das hervorragend. Witt schafft es, die unheilige musikalische Grenze zur Volksmusik NICHT zu überqueren, sondern navigiert elegant und eloquent auf dem schmalen Grat, den das Produzieren deutschsprachiger Musik nun einmal mit sich bringt.

Insbesondere textlich ist Witt auf der Höhe seines Schaffens. Viele Stücke stellen tatsächlich das Beste dar, was Joachim Witt bisher gemacht hat – das bereits zitierte „Hände Hoch“ führt ein halbes Dutzend sich ins Hirn einbrennender Hits an, die einem beim Hören immer wieder ein diabolisch breites Grinsen („Ole“) oder ein sarkastisch die Lippen umspielendes Lächeln ins Gesicht („Tod Oder Leben“) zaubert. Joachim Witt hat mit „Pop“, „Bayreuth III“ und noch einigen anderen Alben ziemliche Rohrkrepierer am Start gehabt, aber mit „Ich“ hat er etwas geschafft, was so eigentlich nicht zu erwarten war: Ein perfekt ausbalanciertes, deutschsprachiges, textlich anspruchsvolles Album zwischen Pop, Rock, Chanson und letzten Elementen der NDW. Sehr schön.

Ähnliche Beiträge

Schreibe einen Kommentar