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Evertina

Ein Pianist, drei Stücke, zwei Geschichten: Lubomyr Melnyk gibt seine neue EP ‚Evertina‘ offen als Zwischenspiel, deren Stücke als untergeordnete Kleinkunstwerke zu erkennen. Gleichwohl ist dieser Release mit Daseinsberechtigung nur so durchtränkt. Abseits des Flügels, in den tonalen tiefen des aufrechten Klaviers fand der ukrainische Künstler Melodien, die er bewusst von Konzertsälen fernhält, und in ihnen auch die Bestimmung von ‚Evertina‘.

Weiß man, dass Lubomyr Melnyk seine Kernkompetenzen im kontinuierlichen Musizieren, im ungebrochenen Fluss des Klangs sieht, ist der Extrarundencharakter der EP schnell erfasst. ‚Evertina‘ ist so etwas wie die fünf Minuten, die der Opa noch bei seinem Enkelkind bleibt, wenn es nicht in den Schlaf findet. Die fünf Minuten, aus denen am Ende 25 werden, die aber wie im Fluge vorüberziehen, und das, obwohl alles Elektronische bereits abgeschaltet und ausgestöpselt ist.

Von einem dichten Wald mikrokosmischer Farben erzählt Melnyk, von Schmetterlingen, die in taumelnder Anmut ihre verwinkelten Wege zurücklegen. Damit trifft er voll ins Schwarze und sperrt seinen Rezensenten die geeignetsten Metaphern. Zwischen fünf und zwölf Minuten Zeit nimmt er sich, um die Spiralgebilde zu entwickeln und zu verdichten, die Kurven sorgsam auszuspielen, die Akkordwogen vorsichtig aufzutürmen und Akzente lebendig zu drapieren – und spricht dabei trotzdem noch von Miniaturen. Die Stücke beherrsche er quasi im Schlaf. Zugleich scheint es jedoch, als bestünde noch Aufklärungsbedarf inmitten der Klanglandschaften. Als würde Melnyk seine Melodien noch erforschen, sich im Dunkel ihre Form ertasten müssen. Vorsichtig erkundet er die von ihm selbst geschaffenen Motive, tastet sich sorgsam über die Reliefs und jedes Mal scheint sich irgendetwas anders anzufühlen. Jedem Akkord ist seine ganz eigene Schwere zugewiesen, jedem Crescendo sein eigenes Timbre.

Bisweilen erscheint die Akzentuierung regelrecht fragend, und jedes Mal, wenn Melnyk das Tempo drosselt oder helikopterhaft über einem Arpeggio verharrt, weiß man: Er hat schon wieder etwas gefunden. Ein Lied im Lied, ein Thema zum Liebkosen und Aufpolieren, Takt für Takt, Taste um Taste – das Stück atmet und wächst, die Melodiebögen formen sich aus, man möchte sich mit in sie hinein neigen. Ein schönes bis zauberhaftes Bisschen Album. Dass aber Lubomyr Melnyk zu den rasantesten Konzertpianisten des Erdballs zählt, unterschlägt er hier sorgfältig. ‚Evertina‘ spielt nun einmal in einer anderen, kurvigeren Welt.

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