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The Tangent – Prog trifft auf Politik

WS: Ich fange einfach mal mit dem ganz Offensichtlichen an: Auf „The Slow Rust Of Forgotten Machinery“ habt Ihr Euch entschieden, nicht nur musikalisch etwas düsterer zu werden, sondern auch eine klare politische Nachricht zu senden, die wenig Raum für Fehlinterpretationen läßt. Unter all den überraschenden bis schockierenden Entwicklungen in der ganzen Welt, gab es ein spezifisches Ereignis, daß Deine Entscheidung, Stellung zu beziehen und Protestmusik zu schreiben, ausgelöst hat?

neu-5.jpg „Andy:

In diesem Fall war es der Brexit. Der komplette Weg zu diesem Ding war geprägt von Lügnern, gegenseitigen Beleidigungen und gegenseitigem Hass, und die rechtslastige UK-Presse, die unter dem Gesetz der „Free Speech“ nur „Cheap Speech“ (etwa: billiges Gelaber) benutzt hat, um ihre separierenden und feindseligen Punkte zu untermauern. Ich habe keine politischen Helden in Brüssel, aber ich hatte zu der Zeit auch keine in Westminster. Ich wollte nicht, daß wir die EU verlassen, aber das war nicht der Grund, warum ich geschrieben habe, was ich geschrieben habe. Das Album kümmert sich mehr um die Spaltung, die zwischen rechtslastigen und progressiven politischen Gedanken wächst und dem Hass, der zwischen den Vertretern dieser Überzeugungen wächst.

WS: Ich war durchaus schockiert, einige vornehmlich von britischen Kommentatoren stammende, recht gehässige Bemerkungen zu lesen, als ‚A Few Steps Down The Wrong Road‘ veröffentlicht wurde. Vor allem, weil es für britische Prog-Bands völlig akzeptabel ist, Songs über, nun ja, das „green and pleasant land“ zu schreiben, die sich für meine Ohren eher nach einer Tirade des Comedians Al Murray anhören – allerdings ohne dessen satirischen Anspruch – und die eine ziemlichen Kontrast zum offenen, toleranten und modernen Großbritannien darstellen, daß ich kennenlernen durfte, speziell durch Musiker und Musikliebhaber. Inwiefern ist „The Rust Of Forgotten Machinery“ eine Reaktion auf „UKIP-Progheads“?

Andy:

OK… eine sehr interessante Frage, und noch dazu eine, die ich sehr vorsichtig beantworten sollte, da Du ja, ganz speziell, einen Song von Pendragon („Green And Pleasant Land“ – Anm. d. Red) erwähnt hast, und meine Antwort sollte unter der Prämisse gelesen werden, daß man mich gefragt hat. Ich mag die neueren Inkarnationen von Pendragon ziemlich gerne, besonders „Pure“. Ich kenne Nick Barrett auch gut genug, daß wir „Hallo“ sagen und wir hatten bereits einige interessante Gespräche bei Gigs. Der Typ, den ich getroffen habe, ist ein Typ, den ich mag. Allerdings, wie Du festgestellt hast, ist ihre politische Überzeugung ziemlich anders als meine, und sie betreten Bereiche (wie in ‚Green And Pleasant Land‘), die meiner persönlichen Denkweise sehr fremd sind.

Lass mich vorab sagen, daß das absolut GESUND ist. Wenn Pendragon von einer Seite der Debatte kommentieren und The Tangent von der Anderen – das bringt Progressive Rock in eine Position, in der er Leute unabhängig von simpler Genreloyalität angeht. Ich denke, es ist gut, daß beide Bands das Gefühl haben, innerhalb ihrer Arbeit die Botschaft, an die sie glauben, einbringen zu können. Somit machen Pendragon ihren Job. Das unterstütze ich.

Natürlich, obwohl Pendragon auf gar keinen Fall so was wie „Rechtsextreme“ sind – haben sie in zumindest eineigen ihrer Songs Ansichten zum Ausdruck gebracht, die vielen UKIP-Mitgliedern sehr gefallen dürften. Das heißt nicht, daß Pendragon eine UKIP-Band sind… nur, daß einige ihrer dargestellten Meinungen bei diesen Leuten gut zuhause wären. Genauso, wie vieles, was wir sagen, zu Marxisten und Linksradikalen passen würde. Also, jede Vorstellung von Nick als faschistischer Type ist genauso dämlich wie sich mich vorzustellen, wie ich auf dem roten Platz salutiere, während tausende Truppen und Raketentransporter vorbeiziehen. Wir sind Musiker. Echte. Wir haben Meinungen.

All das repräsentiert ein Problem, das Großbritannien hat, ein Problem, das beleuchtet wird von der Tatsache, daß wir ein Referendum über das Verlassen der EU abgehalten haben. Wir sind ziemlich genau der Mitte entlang gespalten, das Referendum war nicht beweiskräftig, und an diesem Tag, unter diesen bestimmten Umständen, hat eben die „Leave“-Kampagne gewonnen. Zwei Tage später hätte vielleicht „Remain“ gewonnen, je nachdem, was an Sport an der Glotze war – aber immer noch ohne Beweiskraft. Ich habe KEINE AHNUNG, wofür Nick gestimmt hat – es geht mich auch nichts an.

Unser Album handelt nicht vom Referendum. Es handelt von SPALTUNG. Es handelt von Gemeinschaften und Freundschaften, die zerbrechen. Es handelt von mir und Nick Barrett, die an gegenüberliegenden Ufern einer politischen Kluft stehen, obwohl wir beide progressive Musik mögen, beide gerne Motorrad fahren und beide Partner haben, die auf Natur und Gartenarbeit stehen. Wenn wir näher beieinander wohnen würden, wären wir wahrscheinlich befreundet.

Was Pendragon und The Tangent Dir anbieten, sind zwei oftmals verschiedene Blicke auf die Welt, aber diese Blicke kommen von offenherzigen Musikern, nicht von intriganten Politikern auf vorgefertigten Karrierepfaden. Ich glaube daran, daß Du beiden zuhören solltest. Denn es wird HÖLLISCH viel Zeug geben, bei dem wir uns einig sind.

WS: Auf der anderen Seite finde ich es beruhigend, daß nicht nur The Tangent Stellung beziehen. Marillion haben sich in letzter Zeit wieder offen politisch geäußert, genauso Fish, und Roger Waters ist ebenfalls zurück und tierisch angepisst – so, wie wir ihn mögen. Denkst, Du, daß sich hier eine Wende ankündigt, die die „Musik zum Mitdenken“ wieder zu ihren gegenkulturelle Wurzeln zurückführt?

neu-2.JPG „Andy:

Ich denke, da hat sie schon immer hingehört. Die Homogenisierung der Rockmusik zu einem Verbrauchsgegenstand in den Jahren 1977 bis 2007 hat der Fähigkeit der Musik, eine Veränderung herbeizuführen, kräftig den Stachel gezogen. Anstelle von Bands, die nach vorne traten, weil ihre Botschaft ihnen wichtig war, sahen wir ab 1985 nur noch Bands, die ihre Hits auf weltweit im Fernsehen übertragenen Charity-Konzerten darboten. Währen die Rockmusik als Geld abwerfendes Medienkonstrukt immer mehr in den Hintergrund verblasst, stehen die Türen offen für weitere Künstler, die einen Botschaft transportieren möchten, und ich unterstütze und begrüße das. Der Daseinszweck von Musik ist es, die Gesellschaft und menschliche Gefühle darzustellen. Es ist der Ausdruck des Selbst, der Empathie und Verstehen von Wegen außerhalb der unmittelbaren Träger. Also, ja, eine Veränderung liegt in der Luft. Und ja, wir sind Teil dieser Veränderung.

WS: Immer, wenn ich mit unabhängigen, abseits des Mainstream agierenden Bands aus dem UK spreche, haben sie für gewöhnlich eines gemeinsam: ein Gefühl der Unsicherheit, wie „Brexit“ ihre Zukunft in Bezug auf Torneen und DIY-Verkäufe beeinflussen wird. Da The Tangent ja generell ehedem aus Musikern aus ganz Europa besteht, was denkst Du, wie Euch speziell diese Sache betreffen wird?

Andy:

Die Menschen, die verantwortlich für diese Brexit-Scharade sind, versuchen ganz einfach so viel für sich selbst herauszuschlagen wie möglich. Ich traue den Typen nicht einmal soweit, wie ich sie werfen kann (1). Sie sagen uns überhaupt nichts, denn das bedeutet ja offenbar, daß man ihnen „in die Karten sehen“ könnte, und genau deshalb können sie: erstens Entscheidungen treffen, ohne uns mitzuteilen, was sie überhaupt wollen, was bedeutet, daß sie zweitens uns niemals mitteilen müssen, was sie verlangt haben, damit sie drittens am Ende das Maximum an Gewinn herausholen können für alles, womit sie durchkommen. Viertens werden beide Seiten behaupten, Sieger zu sein. Das tun sie immer. Das ist ermüdend und langweilt, weil fünftens: niemand überhaupt irgendwas gewinnen wird.

Als Konsequenz dessen sitzt die Geschäftswelt in Großbritannien vollständig im Dunkeln bezüglich dessen, was kommen wird, das Land blutet Geld für diese ganze Prozedur und niemand hat eine Ahnung, was am Ende übrigbleibt. Du kannst Dir sicher sein, daß das Schicksal von ein paar Progressive Rock-Bands und ob die in der Lage sind, durch die EU zu touren weder in Westminster noch in Brüssel auf irgendjemandes Agenda steht. Wie jeder andere kriegen wir das, was bleibt und müssen damit klarkommen. Ich hoffe immer noch, und wenn ich religiös wäre, wurde ich darum BETEN, daß mein Land bemerkt, in was für einen Schlamassel es sich da geritten hat und diese Entscheidung rückgängig macht, die Generationen von Europäern bis weit in die noch ungeborenen Millionen belasten wird. Ich bleibe Europäer – bis ins Mark. The Tangent ist eine Band, die aus schwedischen, englischen und belgischen Personen besteht. Wir sind bei einem deutschen Plattenlabel. Unser Coverdesigner lebt in Weißrussland. Wir haben zwei Alben in Frankreich aufgenommen. Ich habe fünf Jahre lang in Frankreich gewohnt. Mein Land hat an einem EINZIGEN Tag 2016, nachdem Politiker auf beiden Seiten der Debatte uns absoluten BULLSHIT über das, was die EU bedeutet, erzählt haben, abgestimmt, diese Freiheit, sich zu bewegen, die wir so genossen haben, abzuschaffen. Bestenfalls war das ein Lackmustest, der ehrlichere Gespräche zwischen Westminster und Brüssel hätte inspirieren können.

(1) Im O-Ton:[i]’I don’t trust these people to piss in a straight line for us.'[/i]


WS: Nur ein paar Monate nach der Veröffentlichung von „A Spark In The Aether“ kam die schockierende Nachricht, daß Du einen Herzinfarkt erlitten hast. Erst einmal hoffe ich, es geht Dir wieder gut, und dann ist natürlich die Frage, ob diese Erfahrung die Ausrichtung des neuen Albums mitbeeinflusst hat?

neu-3.jpg „Andy:

Vielen Dank, ich erhole mich natürlich immer noch davon – ja, es war ein Schock, und es war dieser Moment im Leben, in dem Du bemerkst, daß Du nicht unsterblich bist. Dieser Moment verändert natürlich die Weise, wie Du die Welt betrachtest und natürlich muss sich das somit auch in der Musik bemerkbar gemacht haben. Ich kann Dir selbst nicht einmal sagen, ob diese Gefühl im ganzen Album präsent sind, ich weiß aber, daß das Instrumentalstück ‚Doctor Livingstone, I Presume‘ der Moment war, in dem ich mich musikalisch wiederentdeckte und begann, mit meinem Leben weiter nach vorne zu gehen.

WS: Musikalisch finde ich persönlich, daß das Album ein großer Schritt nach vorne ist und teilweise ziemlich anders klingt als sein unmittelbarer Vorgänger „A Spark In The Aether“. Ohne zu weit vom wiedererkennbaren The Tangent-Sound wegzugehen, war ich zum Beispiel sehr beeindruckt, wie natürlich und unangestrengt sich das DJing von Matt Farrow, die Spoken Word-Passagen und die Punk-Riffs auf ‚A Few Steps Down The Wrong Road‘ einpassen. Habt Ihr bewusst die experimentelle Seite wieder mehr betont und Euch aus der Komfortzone von „A Spark In The Aether“ herausbewegt?

Andy:

Wenn ich schlechte Reviews unserer Arbeit lese, dann kommt oft die Stelle, an der es heißt „gute Musiker, Andy Tillison ist ein armseliger Sänger, die Musik ist zwar gut, aber nichts, was man nicht schon millionenfach gehört hätte“. Es heißt oft, es sei „normale Prog Rock-Kost“. Ich komme gut klar damit, wenn Leute The Tangent nicht mögen, ich komme klar mit schlechten Reviews, aber jeder, der behauptet, daß wir immer nur der „Prog-Blaupause“ folgen, hat ganz einfach unsere Musik nur sehr oberflächlich gehört.

Unsere Musik hat eine ganz offene Verbindung zum Progressive Rock, einem Namen und einem Genre, daß ich über die Jahre immer wieder verkündet habe und nie versucht habe zu verstecken oder zu verleugnen. Vielleicht hat unser selbstbewusstes Benutzen des Begriffes dazu geführt, das Leute uns „nicht weiter verfolgt“ haben – was bedeutet, daß es einfach eine ziemlich schlechte Marketingstrategie von mir war! Mag sein. Für mich bedeuten die Worte Progressive Rock etwas Tieferes und einen Auftrag. Ich wollte nie eine bestimmte Band ins Detail kopieren. Wir haben wichtige Einflüsse aus dem Genre, ganz sicher sogar, und ich würde das nie verstecken wollen. Aber wir hatten schon oft Einflüsse verarbeitet, die generell als „außerhalb des Progressive Rock“ betrachtet werden. Die sind aber nicht da, weil wir besonders schlau sein wollen. Die sind da, weil es eben Einflüsse von uns sind!

neu-4.jpg „Ich denke, es gibt in der Tat einige Bands, speziell in Großbritannien derzeit, deren einziges Ziel es ist, Siebziger-Prog zu machen für die, die in den Siebzigern Prog mochten! Deren Arbeit ist erstaunlich gut, wunderschön aufgebaut und liebevoll rekreiert und, weil ich Prog Rock in den Siebzigern mochte, macht mich das richtig an. Ich habe einmal für ein solche Band ein paar Dinge gemacht und mir fiel auf, daß eines der Stücke fast identisch zu einem Genesis-Stück war. Ich habe es deshalb also geändert, und natürlich haben sie es dann wieder in die Ursprungsform gebracht. Ich liebe das Stück immer noch, es ist wunderbar! Aber das von Genesis mocht ich eben schon früher. Sie übrigens auch!

Tangent-Musik hat über die Jahre schon Metal, Funk, Dance, Pop, Funk, DJ Dance, japanische Spielkonsolenmusik, Jazz, Jazz Fusion und klassiche Einflüsse integriert. Für manche Hörer ist das so, wie eine moderne Telefonzelle in einem Film über die Fünziger Jahre zu sehen. Manche mögen das nicht und sehen es als inkonsistent. Wir sehen es als Teil der erfreulichen Regelfreiheit die in progressiver Musik existieren kann. The Tangent ist ein Hybrid. Wir können alles machen, auf was wir Lust haben. Und das werden wir auch.

WS: Und natürlich muss auch erwähnt werden, daß du einige recht beeindruckende Schlagzeugparts zu dem Album beigesteuert hast, inklusive eines ziemlich coolen Solos. Hast Du die Drumparts alle gespielt oder auch Teile programmiert? Und, wirst Du auf der kommenden Tour auch Schlagzeug spielen – ein umgekehrter Phil Collins, sozusagen?

Andy:

Ich benutze eine ziemliche Palette an Techniken fürs Trommeln – aber alles ist gespielt und nichts „programmiert“. Live-Performance ist die Essenz des The Tangent-Sounds, und so machen wir nicht dieses Steven Wilson-Ding mit Backing Tapes – ich liebe die Band, das ist keine Kritik, nur eine komplett andere Herangehensweise – oder einem Clicktrack, der uns an eine Slideshow auf einer Leinwand bindet. Das gilt für’s Studio genauso wie auf der Bühne. Ich spiele die Drums mit Sticks, aber auch auf einem Keyboard, das in der Lage ist, so nahe an den Klang des Originals zu kommen, daß man es gar nicht mehr bemerkt. Ich denke nicht, daß es, weil die Performance auf ein Keyboard übertragen wurde, deshalb keine echte Performance mehr ist. Wenn Du das anders siehst und denkst, das sei „fake“, musst Du auch die Wertigkeit aller Synthesizer- und Mellotronparts, die je aufgenommen wurden infrage stellen und Dir überlegen, ob die auch „fake“ sind. Musik hat schon immer die modernen Mittel der Technologie ausgenutzt. Nein, ich werde auf der Tour nicht Schlagzeug spielen, damit habe ich keine Erfahrung, und unsere Drums werden von Steve Roberts von Magenta und Godsticks gespielt. Aber hey, vielleicht machen wir ja ein Drum-Duett!

WS: Wo wir beim Thema Touren sind: für die kommenden Shows habt Ihr Euch wieder mit den Musiker von Karmakanic zusammengetan. Kannst Du schon ein Line-Up für die Hybrid-Band verraten oder ist das noch ein Spoiler?

Andy:

Das Lineup besteht natürlich aus mir und Jonas Reingold, dann noch Luke Machin an der Gitarre und Marie Eve De Gaultier an Keyboards und Gesang (beide Maschine, Anm. d. Red.), Steve Roberts am Schlagzeug und Göran Edman am Gesang. Theo Travis wird uns noch auf zwei Festivals in Europa begleiten, und natürlich spielen alle sechs Musiker für beide Bands.

WS: Nun, eine letzte Sache noch, die ich einfach fragen muss (vermutlich nicht als Erster): wie stehen die Chancen, ein Livealbum dieses Tangent/Karmakanic-Hybriden zu bekommen?

Andy:

Wir machen sicher Aufnahmen, und natürlich wird die Veröffentlichung davon abhängen, wie diese Aufnahmen ausfallen. Als wir das letzte Mal den Versuch starteten, hat der Soundmann vegessen, „Aufnahme“ zu drücken, und wir bekamen ein wunderschönes Video – aber komplett ohne Ton…

Fotos: Miles Skarin
Vielen Dank an Andy Tillison für die Beantwortung der Fragen und an Peter Klapproth und Inside Out für das Organisieren des Interviews!

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