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Seafoam

Literaten und Cineasten ist es auf Anhieb klar, allen Anderen hilft die Google-Suche auf die Sprünge: Kamikaze Girls haben sich nach dem Roman bzw. dessen Verfilmung aus dem Jahr 2004 benannt, und wir sind dankbar dafür, dass das Duo sich nicht für den Originaltitel Shimotsuma Mongatari entschieden hat.

Den zweiten Sympathiepunkt heimst Drummer Conor Dawson sogleich ein, wenn er sich angesichts des Bandnamens –
Nomen est omen – freiheraus als Riot Grrrl identifiziert. Gemeinsam mit Sängerin/Gitarristin Lucinda Livingstone hat er in größerer Bandformation bereits unter dem Namen Hearts & Souls gespielt. Beide Bandnamen illustrieren den musikalischen Output der beiden Engländer führwar sehr treffend. War schon ihre letztjährige Debüt-EP ‚Sad‘ ein emotionaler Ausbruch, ein Ventil für die persönlich von Livingstone durchlebten Angstzustände und Depressionen, so ist auch der nun folgende erste Longplayer randvoll mit ungestümen Gefühlen und dem Versuch, sie in den Griff zu bekommen: Wut, Unsicherheit, Empörung und Aufruhr entstammen nicht nur der Verzweiflung aus Phasen mentaler Angeschlagenheit und sogar Wohnungslosigkeit, sondern auch einem gewissen feministischem Engagement.

Die beiden Kamikaze Girls wissen all diesen Empfindungen das jeweils passende melodische Gewand zu verpassen und kreieren auf ‚Seafoam‘ eine kraftvolle Mischung aus Power-Pop, Punkrock, Garage, Metal und Progressive. Schwerfällig spielen sie sich mit ‚One Young Man‘ in das Album rein, um im nächsten Moment wild um sich zu schlagen.

‚I feel like I’m having a heart attack, I can’t breath‘

ruft Livingstone hörbar atemlos und brandmarkt ‚Berlin‘ als

‚city with no spirit‘

. Ihr Gesang ist fast durchgehend mit Hall unterlegt, was die Wirkung der Songs noch verstärkt – ein Album wie ein Kampf, allerdings nicht nur um die eigene Verfassung. Neben ihrem selbsttherapeutischen Zweck sind die Texte stark nach außen fokussiert, eine direkte Ansprache für alle, die von mentalen Gesundheitsproblemem betroffen sind. Die Hoffnung dahinter ist, sich selbst und all denen, die es brauchen, eine sichere Nische zu schaffen:

‚All I ever needed was a place to feel safe.‘

(‚Unhealthy Love‘)

So beweist letztlich nicht nur der abschließende Track, dass das Private eben immer auch politisch ist, wenn die Verzweiflung über die persönliche Lage nach einer allumfassenden Lösung schreit:

‚We need to fix this together‘

, heißt es im Refrain, und konkreter in den Strophen:

‚we don’t need more guns, we need lovers … we don’t need more war, we need art … we don’t need more genderfobia, we need freedom … we don’t need more seggregation, we need SOLI-DARI-TY.‘

Auch wenn die Konklusion wenig optimistisch klingt (

‚I don’t want to be sad forever, but I know that I probably will be‘

), gibt ‚Seafoam‘ im Ganzen doch Halt. Die Energie und Offenheit, die in ihm steckt, ist mindestens beeindruckend, wenn nicht überwältigend.

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