Roger Miret: Wie man elegant auf Messers Schneide balanciert
Manch eine Musiker-Biografie liest sich wie ein Märchen: Es war einmal ein talentierter junger Songwriter, der mit viel Engagement und Herzblut für seinen Traum kämpfte, die richtigen Leute traf und schließlich den großen Wurf landete. Der Rest ist Geschichte, der Musiker berühmt bis ans Ende seiner Tage. Amen. Die Karriere von Agnostic Front-Sänger Roger Miret verlief alles andere als märchenhaft, im Gegenteil: Neben der Liebe zur Musik prägten Gewalt, Drogen und Alkohol sein Leben. Davon erzählt er eindrücklich in seiner ungeschönten Autobiografie „United & Strong – New York Hardcore: Mein Leben mit Agnostic Front“.
Wer als Kind kubanischer Einwanderer in New Yorks Lower East Side der 70er und 80er Jahre aufwächst, hat nicht viel zu lachen: Nicht nur in Mirets Familie ist Gewalt dank des prügelnden Vaters und später Stiefvaters an der Tagesordnung, auch auf den Straßen weht ein ziemlich rauer Wind. Miret, heute selbst mehrfacher Familienvater, macht keinen Hehl daraus, dass er zu den Typen gehörte, die sich mit Verve und Vorsatz in die nächste Prügelei stürzten. Stellenweise lässt er zwar anklingen, dass er diese Seite an sich mitunter verteufelte, geht aber nicht auf Distanz zu seinem früheren Ich. Damals war es eben so, fertig. Dennoch gibt es einzelne Ereignisse, die der passionierte Motorrad-Schrauber aufrichtig bereut – beispielsweise einer alten Dame die Handtasche geklaut zu haben, um sich die nächste Dosis Drogen zu finanzieren. Nach der Tat zeigte er sich selbst bei der Polizei an.
Ein Ventil für seine ständig brodelnde Wut und Aggression fand Roger Miret schließlich in der Musik, genauer: im Punk. Das legendäre Ramones-Album „Rocket To Russia“ nebst diverser Besuche in einschlägigen New Yorker Clubs wie dem CBGB waren die Offenbarung, die dem damals 15-Jährigen den Weg wies. Der Moshpit war sein Zuhause, Konzerte seiner Lieblings-Bands wurden quasi zur Sucht. „Wenn man so sehr auf bestimmte Bands und ihren Musikstil steht, können solche Momente zu den Höhepunkten des Lebens werden“, sagt Miret. Ein Satz, den jeder Musik-Enthusiast unterschreibt. In solchen Passagen ist der Autor dem Leser ganz nah, ein Gefühl der Verbundenheit, des „Wir gegen den Rest der Welt“ entsteht – eine seltene, aber irgendwie verschwörerische Erfahrung bei der Lektüre einer Biografie, deren Inhalt so unglaublich weit weg vom eigenen Erleben ist.
Bevor er bei Agnostic Front einstieg, probierte sich Miret in diversen New Yorker Hardcore-Bands aus und brachte sich das Bass-Spiel selbst bei. Mit ihrer Debut-EP „United Blood“ setzte die Combo einen Meilenstein in der Geschichte des New York Hardcore, das Debut-Album „Victim In Pain“ gilt bis heute als Klassiker des Genres. Als Frontmann von Agnostic Front hatte Miret endlich im wahrsten Sinne des Wortes eine Stimme: Er konnte seine Erfahrungen in wütende Texte und tempogeladene, aggressive Musik packen. Damit wurde er zum Sprachrohr einer eingeschworenen Szene, deren Mitglieder in der Regel Ähnliches erfahren hatten wie er.
Agnostic Front erlebten nicht nur durch zahlreiche Besetzungswechsel einen ständigen stilistischen Wandel. Mirets Verhaftung wegen Drogenschmuggels 1987 und sein anschließender Gefängnisaufenthalt sorgten für eine Zäsur – ebenso seine Entscheidung, die Band 1992 vorerst auf Eis zu legen, um seiner Tochter Nadia ein verlässlicher Vater zu sein. Zu sagen, Miret sei vollständig geläutert aus der Haft entlassen worden, wäre zu viel des Guten. Allerdings ist nicht zu leugnen, dass ihn die Zeit hinter Gittern verändert hat: Er berichtet sehr reflektiert über diese einschneidende Phase in seinem Leben und gesteht sich selbst ein, dass sie etwas in ihm kaputt gemacht und irreversible Ängste erzeugt hat. Diese Offenheit beeindruckt, denn Miret lag immer viel daran, die Fassade des harten, unerbittlichen Kerls aufrecht zu erhalten.
Mit „United & Strong“ liefert Roger Miret nicht nur eine spannende Geschichtsstunde zur Entstehung des New York Hardcore, sondern auch einen schonungslosen Einblick in sein bewegtes, oft knüppelhartes Leben. Manchmal ist es etwas schwierig, ihm zu folgen, weil er nicht immer chronologisch und stringent erzählt. Auch Sympathie für den Protagonisten zu entwickeln fällt gelegentlich schwer, da gerade Mirets brutale Seite und die Normalität der Gewalt oft schockiert. Trotzdem verdient er sich den ihm gebührenden Respekt, denn er schafft es, sich als Schlitzohr mit zahlreichen Ecken und Kanten zu präsentieren, das trotz aller Widrigkeiten immer nur ein Ziel hat: irgendwie zu überleben und dabei die Musik als Quintessenz seines Daseins in den Mittelpunkt zu stellen.
geschrieben von Christina Freko
Roger Miret mit Jon Wiederhorn
„United & Strong – New York Hardcore: Mein Leben mit Agnostic Front“, Iron Pages Books, 288 Seiten, ISBN 978-3-940822-12-3, 19,90 €, VÖ: 24.8.2018, www.ip-verlag.de