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Progressive Rock – Pomp, Bombast und tausend Takte

David Weigels journalistisches Hauptbetätigungsfeld ist eigentlich die Politik. Der Amerikaner ist aber darüber hinaus noch ein eingefleischter Musikfan. Genauer gesagt, ein echter Progger. Mit seinem in den USA schon im letzten Jahr erschienenen, schlicht „Progressive Rock“ betitelten Werk hat er sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichte des in den letzten Jahren durchaus wieder populären Genres niederzuschreiben und auch für Nichtfans nachvollziehbar zu machen. Dank des Hannibal-Verlages kommen nun auch deutschsprachige Leser in den Genuss der Geschichte des Prog nach Weigel.

Weitestgehend geht der Autor dabei chronologisch vor. Er beginnt nach einem Einführungskapitel auf der „Cruise To The Edge“, der Prog-Kreuzfahrt für betuchte alte Männer, höchst gegenteilig dazu im Swingin‘ London der 1960er, in dem die Beatkultur von einer neuen Generation aufgegriffen wurde und mit jeder Menge kauzig-britischer Tradition vermengt zu einem höchst eigenwilligen Kunstcocktail verschmolz. Weigels Schreibstil ist für einen Polit-Journalisten überraschend flüssig, die Menge an Zitaten der Protagonisten und die vielen, durchaus auch witzigen Anekdoten lassen keine Längen aufkommen. Auch ist Weigel durchaus bewusst, wie albern viele aufgeblasene Ego-Aktionen der beteiligten Musiker aus heutiger Sicht wirken, weshalb er auch selbst gerne einmal einen trocken-schnippischen Kommentar einwirft. Meist kontrastiert er aber die aufgeblasenen Aussagen der Musiker einfach mit einem Zitat eines bodenständigeren Bandkollegen. Hört man beispielsweise die unterschiedlichen Auffassungen von Musik-Esoteriker Steve Howe und dem bodenständigen Realist Rick Wakeman, wundert es den Leser nicht, dass die beiden es bei Yes nie lange zusammen aushielten. Lediglich Weigels Versuche, bei einigen Songs die musiktheoretischen Hintergründe aufzudrieseln, sind ein wenig unnötig – für Musiker zu wenig tiefgehend, für Nicht-Mucker bleibt’s staubtrockene Mathematik. Viele der Zitate kennt man als Fan freilich bereits aus anderen Büchern, Sid Smiths „In The Court Of King Crimson“ wird beispielsweise ebenso ausgiebig zitiert wie Alan Hewitts Genesis-Biografie „Opening The Musical Box“ oder Rick Wakemans autobiografisches „Grumpy Old Rockstar“. Da sich „Progressive Rock“ aber auch an Nichtfans richtet, ist das absolut zu verschmerzen, und gerade die O-Töne der Musiker sind hier das Salz in der Suppe, gerade Wakeman und Fripp sind ja für recht offene und amüsante Worte über’s eigene Schaffen (und das der Kollegen) bekannt. Auch Weigel fügt die populärsten Anekdoten fast lückenlos hinzu: Rick Wakemans aus Langeweile entstandene On-Stage-Curry-Verkostung während Yes‘ „Tales From Topographic Oceans“-Tour wird ebenso amüsant erzählt wie Peter Gabriels für Publikum und Band (!) überraschender erster Auftritt mit Fuchskopf, und die Story von Keith Emersons Hitlerjugenddolch gibt es natürlich auch noch.

Das erhoffte zukünftige Standardwerk übers Genre ist „Progressive Rock“ aber bei aller Begeisterung dann doch nicht geworden. Dafür schreibt der Autor zu sehr über seine persönlichen Präferenzen, und die liegen eben fast ausschließlich in den Siebzigern, und noch genauer: bei Emerson, Lake & Palmer, deren Mitgliedern er ein gutes Drittel der Story widmet. Natürlich geben ELP auch aufgrund ihrer fast schon legendären auch nicht-musikalischen Ausschweifungen Stoff für viele Anekdoten, ihre Bedeutung für die Rockmusik im Allgemeinen überschätzt Weigel aber gerne einmal. Beispielsweise, wenn er Keith Emersons The Nice die Erfindung des Prog quasi im Alleingang zuschreibt und ebenso wichtige Einflüsse wie die Beatles oder Syd Barrets Pink Floyd als Nebensächlichkeiten abtut. Durch diese Fanbrillenbetrachtung tun sich somit einige höcht subjektive und damit diskussionswürdige Einschätzungen auf. Immerhin, Yes, Genesis und King Crimson beziehungsweise Robert Fripp kommen ebenfalls recht ausgiebig zu Wort, auch die Canterbury-Szene um Soft Machine und Gong wird durchaus hingebungsvoll beleuchtet. Bands wie zum Beispiel Pink Floyd oder auch Frank Zappa hingegen wird die Zugehörigkeit zum Genre gleich ganz abgesprochen, und spätere Bands wie Marillion, Porcupine Tree, Dream Theater oder Spock’s Beard werden mit wenigen Sätzen abgehandelt. Stattdessen gibt’s ein komplettes Kapitel über die – wie der Autor selbst zugibt – kreativ wie kommerziell völlig unergiebigen Reunion-Versuche von ELP. Weitere wichtige Impulsgeber wie IQ, Haken, Tool, Kate Bush oder die Flower Kings werden hier gleich komplett ignoriert – kein Wunder, das Weigel zum Fehlschluss kommt, die Ära des Prog liege weit in der Vergangenheit.

Trotz aller Kritik ist David Weigels „Progressive Rock“ ein sehr unterhaltsames Buch für Musikfans jeder Art geworden. Ob man Fan ist oder noch nie etwas vom Genre gehört hat, der Unterhaltungswert ist enorm – sofern man denn mit der Menge an Protagonisten und Querverbindungen zurecht kommt. Weigel hat statt eines „Lehrbuches“ eher eine unterhaltsame Urlaubslektüre über ein paar außerordentlich kreative Musiker geschrieben, die für ein paar Jahre das Regelbuch des Rock komplett auf den Kopf gestellt haben – und dabei ganz nebenbei eine enorme Palette an höchst unterschiedlicher und faszinierender Musik fabriziert hat.

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