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NIGHT OF THE PROG – Endlich wieder krumme Takte an der Loreley

Nicht nur das Virus hat den Fans Angst gemacht, es gab auch einen langen Streit zwischen dem Pächter des Geländes und der Stadt St. Goarshausen um die Nutzunng der Freilichtbühne. Aber im Moment können alle aufatmen. Statt eines Hotels gibt es wieder den Campingplatz, die von Unkraut überwucherten Steinbänke des Amphitheaters sind vom Gestrüpp befreit, und nach zwei „proglosen“ Jahren gibt es endlich wieder krumme Taktarten, ausuferde Soli und viel internationales Publikum am Rheinufer. Drei Tage wollen die Fans Bands, Musik und Freundschaften in relaxter Atmosphäre auf dem „Event of the year“ (Progressive Rock Magazine 2018) feiern.

Freitag, 22. Juli 2022

Eröffnet wird das Festival von der deutschen Band Soulsplitter, die geschickt Progmetal mit Metal und Jazz verknüpft. Das Quintett tritt in schwarzen, der Gothic-Szene entliehener Kleidung auf, und auch in der Musik finden sich immer wieder „schwarze“ düstere Untertöne. Nach diesem gelungenen Auftakt dürfen die Österreicher von Blank Manuskript loslegen, die nicht nur durch ihre bunten, teils glitzernden Outfits auffallen, sondern auch musikalisch einiges zu bieten haben. Dabei fällt besonders die klare, prägnante Stimme von Jakob Widerin auf, der neben dem Gesang auch gerne zum Saxophon greift. Die Österreicher lassen sich hörbar von Frank Zappa inspirieren und sorgen in der frühen Nachmittagsstunde für lautstarken Applaus des Publikums. Die Progfans sind hörbar froh, endlich wieder Livemusik an der Loreley erleben zu dürfen und feiern auch die kleineren Bands.

Mit dem Projekt Smalltape kehr ein alter Bekannter an die Loreley zurück. Philipp Nespital (Gesang, Gitarre, Keyboard) hat sich Unterstützung mitgebracht, von der besonders der Gitarrist Flavio De Giusti hervorsticht. Aus Großbritannien mit dabei: Pure Reason Revolution (PRR), die alternativen Prog spielen und sich nach dem enorm erfolgreichen Debütalbum „The Dark Third“ von 2006 und zwei weiteren Alben leider wieder aufgelöst hatten. Doch 2019 gab es dann die Reunion. Bandleader Jon Courtney und seine Mitstreiter liefern dreistimmige Vocals und spannungsvolle Melodien (Annicke Shireen am Keyboard).  Weiter geht es mit den Landsleuten von The Pinapple Thief, den heimlichen Headlinern des ersten Tages, zumindest was die Stärke des Applauses angeht. Die Briten überzeugen auf ganzer Linie, Frontmann Bruce Soord hat keine Probleme damit, die Menge um seinen Finger zu wickeln und für sich zu gewinnen.
An den Drums sitzt Gavin Harrison, der auch in legendären Formationen wie King Crimson oder Porcupine Tree spielt und zwar nicht der Star bei The Pinapple Thief ist, aber von den Fans natürlich entsprechend gefeiert wird.

Headliner für den ersten Festivaltag: Renaissance, die Reinkarnation der berühmten experimentellen britischen Rockband aus den 60ern und 70ern des letzten Jahrhunderts. Sängerin Annie Haslam ist seit 1971 mit dabei und feierte diesen Sommer ihren 75. Geburtstag. Die Gruppe ging in den 60er Jahren aus den Yardbirds hervor und ist für viele der älteren Zuschauer eine Legende, verfügt Annie Haslam, die auch Malerin ist und am Merchstand Bilder verkauft, doch über einen Stimmumfang von fünf Oktaven. Manche Zuschauer verlassen das Areal allerdings auch frühzeitig, denn Renaissance können – Alter und Legendenstatus in aller Ehre – nicht ganz so überzeugen die alle anderen Bands des heutigen Tages. Ob man sich nun selbst nicht ganz einig darüber ist, wie der Bandname eigentlich ausgesprochen wird oder ein falscher Song angestimmt und abgebrochen wird, es wird deutlich, dass Annie Haslams Stimme das Songmaterial inzwischen nicht mehr tragen kann, teils klingen die Vocals schrill und manchmal gar neben dem Ton. Schade. Dennoch: Man muss sich bei den Festivalmachern bedanken, eine legendäre Band nach Deutschland geholt zu und vielen Fans die Gelegenheit dazu gegeben zu haben, Renaissance (noch einmal) live zu erleben. Dass auch solche Urgesteine noch gänzlich ohne Stimmprobleme überzeugen können, werden Colosseum am Sonntag zeigen, aber dazu später mehr.

Die Progger strömen mehr oder minder zufrieden in die Nacht hinaus und machen sich auf den Rückweg in ihre Hotels. Einige pilgern auch zum angrenzenden Campingplatz, aber eine Vielzahl der Besucher in doch nicht mehr ganz so jungen Jahren ziehen hier die Übernachtun in bequemen Hotelbetten einem Zelt vor. Da wird dann auf der Rheinfähre oder spätestens am nächsten Morgen im Frühstücksraum des Hotels zwischen Holländern, Franzosen, Engländern und Deutschen weiter gefachsimpelt.

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Samstag, 23. Juli 2022

Weiter geht es am Samstag mit Sentryturn aus Berlin, die das Publikum mit einer enegiegeladenen Show bereit machen für eine der ganz großen Überraschungen des Festivals: Fughu aus Argentinien. Der Sänger Renzo Favaro steht keinen Augenblick still, wechselt während der Show mehrfach das Outfit, geht auf Tuchfühlung mit der ersten Reihe des Publikums, während Gitarrist Ariel Bellizio Guita ein paar Akkorde aus Bowies ‚Space Odditiy‘ in ‚Martian‘ einbaut, um seinem Idol zu huldigen. Die Argentinier kommen dabei super sympathisch rüber und überraschen das gesamte Festival mit ihrer starken Bühnenpräsenz, aber auch mit musikalischem Finesse. Im späteren Verlauf der Show kommt hat der ehemalige Frontmann Santiago Burgi, der jetzt in Deutschland lebt, mit auf die Bühne, schmettert einen Song ins Publikum hat hat dabei sichtlich mindestens genauso viel Spaß wie Band und Zuschauer.

Es wird schwer, direkt hinter solch einem großartigen Act aufzutreten, aber die deutschen Progmetaller von Traumhaus schaffen das locker – trotz eingeschränkter Kapazität, musste sich der Keyboarder und Sänger Alex Weyland doch vor Kurzem einer Stimmband OP unterziehen. Darum werden Traumhaus von Gastsänger Paul Adrian Villarreal unterstützt, einem alten Bekannten des Bassisten Daniel Kohn aus dessen früherer Band Sun Caged. Das hat zur Folge, dass erstmals Songs live in englischer Sprache präsentiert werden, was diesen Auftritt zu etwas ganz Besonderem macht. Die Bühnenshow ist wesentlich statischer als bei Fughu, dafür überrollt die Band das Areal mit einem dichten, stimmigen Sound, dessen Arrangements teilweise an die frühen Dream Theater Alben erinnern. Alex Weyland lässt es sich trotz OP nicht nehmen, zumindest den deutschsprachigen Song „Das Vermächtnis“ zu singen.

Auch mit im Line-Up vertreten sind Jadis aus Südengland, bereits seit den 80ern im Geschäft. „We are not a new band!“ lautet die Ansage dementsprechend. Die Engländer überzeugen durch groovende Riffs, melodische Gitarren und mehrstimmigen Gesang. Frontmann Gary Chandler zeigt sich in bester Verfassung, und die Fans freuen sich riesig über die Rückkehr von Martin Orford an die Keyboards.

Von England nach Frankreich. Alte Bekannte und absolute Publikumslieblinge kommen zurück: Lazuli spielen ihr vorletztes Album „Le Fantastique Envol De Dieter Böhm“ in voller Länge plus eine Handvoll weiterer Songs, und am Ende versammeln sich alle Bandmitglieder wieder um das berühmte Marimbaphon. Schmerzlich vermisst wird natürlich der kürzlich ausgestiegene Gédéric Byar, aber der neue Mann an der Gitarre, Arnaud Beyney, liefert einen grundsoliden Einstieg und wird gleich mit dem Virus „Loreley“ infiziert. Apropos Virus: Covid ist unter den Besuchern übrigens kein Thema. Man sieht so gut wie nirgends Masken, und niemand hat Berührungsängst zum Nachbarn. Die nächsten Tage nach dem NOTP werden zeigen, ob die Veranstaltung gesundheitlich spurlos an allen Besuchern vorbeigegangen ist. Ein paar Sonnenbrände gibt es auf jeden Fall zu verzeichnen, denn der Wettergott ist Progfan und meint es wieder einmal fast zu gut mit dem Festival – weit über 30 Grad am Sonntag lassen die Besucher verzweifelt nach Schatten suchen.

Doch zurück zum Samstag und dem Headliner Steve Hackett. Der ehemalige Genesis-Gitarrist und gefeierte Solokünstler präsentiert in einem nahezu perfekten und über zwei Stunden langen Auftritt seine „Genesis Revisited: Seconds Out & More“ Show, bei der das gleichnamige Live-Album von 1977 im Mittelpunkt steht, bekanntlich das letzte Album der Band, auf dem Hackett mitgewirkt hat. Unterstützt wird Hackett von namhaften Musikern wie Steve-Wilson-Drummer Craig Blundell, dem Bassisten Jonas Reingold (The Flower Kings, Kaipa) oder Nad Sylvan am Gesangsmikro. Als Gitarristin und Sängerin ist ebenfalls Amanda Lehmann mit dabei, die Schwester von Hacketts Ehefrau Jo. Sie singt auch gleich die beiden ersten Stücke des Abends, bevor das Genesis-Album „Second Out“ in voller Länge präsentiert wird. Nad Sylvan macht dabei eine sehr gute Figur und erinnert immer wieder stimmlich an Peter Gabriel. Im Zugabeteil gibt es neben einem Schlagzeugsolo von Craig Blundell noch die Songs ‚Dance On A Volcano‘ und ‚Los Endos‘ zu hören. In Kombination mit einer tollen Lightshow und einer hervorragenden Band setzt Steve Hackett einen wunderbaren Akzent und wird damit zum verdienten Sieger des Festivals.

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Sonntag, 24. Juli 2022

Der letzte Festivaltag wird mit einer weiteren Überraschung eingeleitet. Wohl niemand hat mit einem so starken Auftritt am Mittag gerechnet, wie ihn Infringement aus Norwegen auf die Bühne legen. Sie präsentieren ihr aktuelles Album ‚Alienism‘ in voller Länge. Passend zur Thematik des Konzeptalbums, in dem es um eine psychiatrische Klinik, deren Insassen und Therapien geht, tragen alle fünf Bandmitglieder weiße Kleidung, und Sänger Hans Andreas Brandal erscheint mal im Arztkittel mit Klemmbrett, dann in Zwangsjacke und schließlich mit fantasievoll gestalteter Maske, in der er sich auch durch das ganze Amphitheater bis in die hinteren Reihen des Publikums wagt und schließlich mit erbeuteter Landesflagge auf die Bühne zurückkehrt. Wer Infringement noch nicht auf dem Zettel hatte, darf das nach diesem herausragenden Auftritt gerne nachholen.

Weiter geht es mit Voyager IV freuen, einem Projekt des Musikers Marcus Schinkel, in dem das klassische Musikstück „Bilder einer Ausstellung“ aufgegriffen wird, das bereits Emerson, Lake und Palmer in einer Prog-Rock-Variante eingespielt haben. Das Ergebnis ist sehr spannend, leider gibt es ein wenig zuviel Kunstnebel auf der Bühne, der das spannende Spiel der Truppe etwas zu sehr versteckt. Immerhin überraschen die Musiker auch mit dem Einsatz eines Theremins und dessen unverwechselbarem Klang. Auch außerhalb der Ausstellungsbilder geht es noch einmal zurück zu ELP mit einerm tollen Cover des ‚Lucky Man‘.

Bei Wired Ways aus Deutschland wird es voll auf der Bühne. Nicht weniger als neun Musiker treten an, und es ist tatsächlich der erste (!) gemeinsame Liveauftritt dieser Formation, obwohl die einzelnen Bandmitglieder „alte Hasen“ im Geschäft sind, so war Vokalist Richard Schaeffer schon vor 15 Jahren mit der Metalband Scavenger aktiv. Metal gibt es bei Wired Ways natürlich nicht zu hören, sondern harmonischen Prog mit stimmungsvollen Gesangsparts („Here are the Coffeeshop Boys“) und langen, leicht psychedelischen Instrumentalpassagen. Wir freuen uns auf das demnächst erscheinende Debütalbum dieser spannenden Band. Direkt daruaf folgt der Auftritt des Barock Project aus Italien. Kopf der Band ist der Keyboarder Luca Zabbini, den wir am Ende des Tages noch einmal mit PFM sehen und hören werden. Frontmann Alex Mari kommt sehr sympathisch rüber und hat das Publikum schnell für sich gewonnen.

Ein besonderes Highlight ist als nächstes der Auftritt der britischen Prog-Jazz-Band Colosseum. Die schon in den 60ern von Jon Hiseman und Deick Heckstall-Smith gegründete Band hat damals mit Legenden wie Eric Clapton oder Led Zeppelin zusammengearbeitet. Von der Originalbesetzung sind heute noch Frontmann Chris Farlowe (inzwischen über 80 Jahre alt), Gitarrist Clem Clempson und Mark Clarke am Bass mit dabei, unterstützt werden sie unter anderem vom ex Gentle Giant Drummer Malcolm Mortimore. Im Gegensatz zu Renaissance überzeugt die Band mit treffsicheren Vocals und Songs, die sich komplett von denen des restlichen Line-Ups unterscheiden. Rhythm’n’Blues ist angesagt, und gerade hier zeigt sich die große Stärke von Chris Farlowe. Hut ab vor dieser Leistung, damit haben Colosseum zweifeslohne Festivalgeschichte geschrieben. Besonder emotional ist auch der Moment, an dem die Band der kürzlich verstorbenen Saxophonistin Barbara Thompson mit der „Valentine Suite“ gedenkt.

RPWL sind alte Bekannte auf dem NOTP. Die als Pink Floyd Coverband gegründete deutsche Formation spielt inzwischen überwiegend eigene Songs, hat aber auch den Floyd Klassiker „Cymbaline“ und „Atom Heart Mother“ (Ausschnitt) sowie die Syd Barrett Nummer „Opel“ im Programm. Gitarrist Kalle Wallner überzeugt mit einigen fulminanten Soli, und der solide Auftritt sorgt für langanhaltenden Applaus, auch wenn man sich vielleicht noch etwas mehr Interaktion mit dem Publikum gewünscht hätte.

Zum Abschluss des Festivals stehen PFM aus Italien auf der Bühne – wieder eine dieser festivaltypischen seltenen Gelegenheiten, alte Legenden noch einmal live zu sehen. Premiata Forneria Marconi heißt die Band mit ausgeschriebenem Namen und war in den 1970er Jahren eine der wenigen italienischen Prog-Formationen. Nostalgisch geht es daher zu bei dem excellenten Auftritt, der viele alte Songs, aber auch neue Stücke aus dem 2021er Album „I Dreamed Of Electric Sheep“ beeinhaltet. Frontmann Franz Di Cioccio plaudert zwischendurch ein wenig, und die alten Herren zeigen sich in bester Spiellaune und sorgen noch einmal für den einen oder anderen Gänsehautmoment. Dann endet das diesjährige Night Of The Prog Festival am Rhein, und man fragt sich, wie man es nur drei Jahre ohne dieses wunderbare Fest ausgehalten hat. Wir hoffen, dass es auf der Loreley weitergehen wird und freuen uns jetzt schon auf das NOTP 2023.

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Wer sich beeilt, kann übrigens auf der offiziellen Homepage des Festivals bis zum 31.07.2022 die Tickets für 2023 zu einem vergünstigten Preis bekommen.

Fotos: Michael Buch

 

Weitere Fotos findet Ihr auf unserer Facecbook Seite zu Tag 1, Tag 2 und Tag 3

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