Negative Capability

Es gibt bis dato im Pop (im weitern Sinne) hauptsächlich zwei Sorten von „reifen Alterswerken“. Die düsteren, ins Zynische abgleitenden Todesgedanken von „Blackstar“ oder „You Want It Darker?“ und auf der anderen Seite die weisen, abgeklärten „hab alles gesehen, bin bereit“-Klänge der „American Recordings“. Dank Marianne Faithfulls Neuer kann man nun eine dritte Kategorie hinzufügen: die ungebrochenen Aufsteherqualitäten einer Person, die das Für-tot-erklärt-werden zur eigenen Kunstform erhoben und deshalb komplett und ohne Zweifel ihren Platz im Universum gefunden hat. Wie Wikipedia erklärt, ist „negative capability“ die „Fähigkeit, zu akzeptieren, dass nicht jeder komplexe Sachverhalt aufgeklärt werden kann“. „Et iss, wie et iss“, eben.

Dass Nick Cave und Warren Ellis an „Negative Capability“ mitgewirkt haben, hat natürlich seine Spuren hinterlassen. Doch „die Faithfull“ vermeidet deren, nun ja, Mauligkeit. Melancholisch, ja, aber immer abgeschmeckt mit einem ungebrochenen Optimismus und der Freude am Jetzt kommen die Songs daher. Und ja, Songs. Es finden sich mit ‚The Gypsy Fairie Queen‘, ‚Don’t Go‘ oder ‚Born To Live‘ auch höchst eingängige Stücke, „Negative Capability“ ist kein verkopftes Kunstprojekt im Lou-Reed-Stil, sondern ein, nun ja, Popalbum. Deshalb fallen auch die Neueinspielungen von ‚It’s All Over Now Baby Blue‘, ‚Witches Song‘ und (erneut) ‚As Tears Go By‘ nicht sonderlich aus dem Rahmen – das Album will und darf von jedem Interessenten konsumierbar bleiben. Sofern derjenige mit den Piano- und Cello-getragenen Arrangements und der Nicht-Stimme der Lady klarkommt , versteht sich. „Blues are my enemy, but love gets me through“ – höchst charismatisch singt, krächzt und spricht sich die Künstlerin durch das Album. Wo etwa die gleichaltrige Cher seit vierzig Jahren der eigenen Jugend hinterherläuft, zelebriert Marianne Faithfull ihr Leben und kotzt sich auch bei Bedarf in ‚They Come Out At Night‘ über die komplett wahnsinnig gewordene Welt aus. „They return the nazis, every seven years“ und „there’s no brave England, no brave Russia, no America“ – seit Motörheads ‚Orgasmatron‘ klang kein Protestsong mehr so ungefiltert angepisst und anklagend, trotz definitiv un-metallischem Klanggewand.

Ja, auch als Popsängerin darf man alt werden. Nur langweilig nicht. Mit „Negative Capability“ macht es Marianne Faithfull für alle vor – und ganz ohne Prätentionen und Schutzschilde. Welt, nachmachen. Wenn Du Dich traust.

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