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METALLICA – 72 Seasons

Gehört es sich, ein neues Album von Metallica zu rezensieren? Welche Maßstäbe setzt man an? Sollte man ein Album vollkommen für sich sehen, ohne die Künstler, ihren Background, ihr Alter und ihre Geschichte mit in Betracht zu ziehen, wenn man über ein Album urteilt? Muss man nicht selbstverständlicherweise ein Album im Bezug zu vorhergehenden Alben sehen? Wenn ein großer Künstler ein neues Werk geschaffen hat – sei es Maler, Komponist, Autor, Regisseur – so wird in jedem Fall im Bezug zu vorherigen Werken darüber geurteilt. Ja, „Duma Key“ war ein guter Roman von Stephen King, aber „Shining“ war besser. Ja, „The Man Who Wasn’t There“ war ein guter Film der Coen-Brüder, aber „Fargo“ war viel besser. Die Gemälde aus Kandinskys abstrakter Phase sind so viel besser als seine frühen, darstellenden Bilder.

Es gibt zwar immer einen Referenzpunkt, aber die Wahl desselben sagt schon mehr über den Hörer aus, als es dem Musiker lieb sein sollte. Dieser Referenzpunkt besteht bei Metallica aus „Master Of Puppets“, „Ride The Lightning“, „Kill’em All“ und „…And Justice For All“ – für die einen. Für die anderen ist es das „Black Album“.

Es ist unschwer zu erkennen, dass man es niemandem wirklich Recht machen kann – und dass man Dinge für sich selbst sprechen lassen sollte. Dies gilt insbesondere für Halbgötter, die ganze Genres, ganze Stilrichtungen und Abermillionen von Fans und angehenden Musikern beeinflusst haben. Diese sind eigentlich über jede Kritik erhaben, und alles, was man Negatives über „72 Seasons“ sagen kann wird an Metallica und ihrer Legende abprallen.

Fangen wir aber mit dem Positiven an: Die Produktion und der Sound dürften so ziemlich der Beste sein, den Metallica je hatte. Wie sehr dies dem Album hilft wird klar, wenn man das Album in seine Einzelteile (die Songs) zerlegt – und diese dann ebenfalls zerstückelt, bis nur noch Versatzstücke übrigbleiben.

Man muss sich den Soundraum vorstellen wie ein kafkaeskes Büro mit einer Schrankwand, bestehend aus vielen Schubladen. In jeder dieser Schubladen steckt ein Versatzstück Metallica. Hier ein Solo, dort ein Rhythmus, hier ein Riff. An manchen Stellen sogar ein Fertigversatzstück, bei dem diverse Elemente bereits zusammengefügt sind. Aus all diesen Teilen, kleiner oder größer, haben Metallica Songs zusammengebaut – generisches Songbuilding mit Hilfe von vorgefertigten Elementen. Leider ist das im Großen und Ganzen ausgeufert – bis auf zwei oder drei Ausnahmen sind die Songs alle zu lang – viel zu lang – genauso wie das Album selbst.

Fast könnte man meinen, jemand hätte ChatGPT gebeten, Metallica-Songs zu schreiben.

Die Menge an „Neuem“ auf diesem Album tendiert ins Negative. Doch sollte das ein Kriterium sein? Für Erfolg – nein, im Gegenteil. Für ernstzunehmende Kunst – ja.

Manche Songs rocken gut, alles (vielleicht bis auf das wirklich unerträglich schlecht zusammengebastelte „Room Of Mirrors“, das eher klingt als hätte eine Metallica-Tribute-Band einen Song auf Wish bestellt) geht halbwegs nett ins Ohr. Es wird kein Schaden hinterlassen, lediglich ein tolerierendes, fast gelangweiltes Schulterzucken. Etwas Schlimmeres kann man über ein Metallica-Album kaum sagen, insbesondere, wenn man die Musik mit den düsteren, sehr persönlichen Texten korreliert, die eindeutig Besseres verdient gehabt hätten. Bei „St.Anger“ konnte man sich wenigstens ärgern – hier dagegen klettert die Belanglosigkeit ins Unermessliche. Obwohl – „Sleepwalking My Life Away“ und „You Must Burn!“ sind dann doch angetan, Musikgourmets den bei diesem Album maximal durchschnittlichen Berieselungsgenuss gehörig zu versauen – so unverschämt dreist kopieren diese beiden Songs „Enter Sandman“ und „Sad But True“ – das Einzige, was anno 2023 weggelassen wird ist der letzte Twist, der die Songs damals zu Über-Hits gemacht hat. Auch „Inamorata“  – und eigentlich so gut wie jeder Song – enthält Teile des schwarzen Albums, bloß halt eben nicht so gut.

Man sollte es nicht falsch verstehen, das sind Songs, die sind hörbar, als Hintergrundbeschallung tolerabel. Sie tun niemandem weh. Ein Trauerspiel, dass die größte Band des Planeten es so weit gebracht hat.

Und ach ja… dass zwei der Songs am Ende mit nicht weggeschnittenen Studio-Kommentaren versehen sind – „nice!“ und „That was good, right!“ – what the hell?

Fazit: „72 Seasons“ ist ein durchschnittliches, sicherlich hörbares Album ohne Highlights, mit viel zu wenig Ecken und Kanten, guten, da sehr persönlichen Texten und immensen Defiziten im Songwriting.

Um auf die anfängliche Fragestellung zurückzukommen: Wäre dies ein Debütalbum einer jungen Band könnte man über diese Dinge hinwegsehen und es wäre ein gutes Album. Aber man muss bei Metallica den Ikonenstatus und den Backkatalog mit einbeziehen – und damit ist „72 Seasons“ ähnliche wie alle Vorgänger seit 30 Jahren einfach nur enttäuschend.

Note 3-

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