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Hyperview

Ich würde Sänger und Bassist Ned Russin durchaus als den Pep Guardiola der Post-Rock-Szene beschreiben, denn wie sein fußballerisches Pendant sieht der Title-Fight-Frontmann sein ‚Team‘ nie als vollendet oder bei 100% der Möglichkeiten angekommen. Eigentlich eine ganz klevere Marketing-Strategie, denn so ist die Spannung der Fans, uns Sympathisanten auf das neue Werk und die damit verbundene und versprochene Weiterentwicklung garantiert. Viele haben ‚Hyperview‘ herbeigesehnt und was kommt jetzt? Zwar nicht etwas völlig Neues, aber dafür eine Platte, die mal wieder ganz andere Facetten der Band zeigt. Nach dem Grunge-Kracher ‚Floral Green‘ aus dem Jahr 2012 schlagen die Amerikaner nun deutliche ruhigere Töne an. Im Gitarrensound ist der Bass nur noch zu erahnen, dafür wurde ordentlich an den Effekten gedreht, sodass man schnell zurück in die 80er und 90er Jahre zurück ‚geshoegazed‘ wird. Plötzlich sind Bands wie My Bloody Valentine oder Ride wieder allgegenwärtig. Die zehn Songs schweben atmosphärisch vor sich hin, sind nicht mehr so unbequem, wie auf dem Vorgänger ‚Floral Green‘. Ned Russin spart sich größtenteils das verzweifelte und gequälte Geschrei, das wir von ihm kennen. Er haucht seine Zeilen eher verträumt ins Mikro.

Zunächst löst diese musikalische Handbremse ein Gefühl der Enttäuschung der hochgesetzten Erwartungen aus. Wo ist die ganze Energie? Wo ist der unbequeme, aber extrem rohe und authentische Sound von Title Fight hin? Diese Platte ist einfach ruhig, aber eben auch feinsinniger. Sie schreit dir nicht direkt ins Gesicht, dass sie eine wichtige und mörderisch gute Platte ist. Der Zugang zu ‚Hyperview‘ dauert länger. Beim Song ‚Dizzy‘ schlummert man entweder gemütlich und zufrieden im Fernsehsessel ein oder man hört genauer hin. Der Track hat keine merklichen Höhepunkte, aber genau das braucht er auch nicht. Er ist bezeichnet für den neuen Sound. Title Fight werfen ab, was ihrer Meinung nach nicht benötigt wird. Das Songwriting erinnert teilweise stark an die Grunge-Kollegen von Superheaven, nur dass diese großen Wert auf einen fetten Sound und noch fettere Sing-A-Long-Refrains legen. Solche Merkmale scheinen Title Fight für diese Platte nicht wichtig zu sein. Sie konzentrieren sich auf puren, ehrlichen Sound und einfache Songs. Einzig ‚Rose Of Sharon‘ lässt druchblicken, wo die Band eigentlich herkommt. Hier sind noch Elemente des Post-Hardcore und Grunge zu hören. Disharmonischer Gesang, der Wut und jugendliche Unzufriedenheit ausdrückt. Dieser verschwimmt im Song zwar wieder zu einem weichen und leicht psychedelischen Shoegaze-Titel, bringt jedoch die alte Dynamik zurück, während sich der Rest des Albums in träumerischer Atmosphäre verliert. Das hört sich wiederum negativ an, als würde man alte Stärken vermissen… Ein wenig ist das nach mehrmaligem Hören auch so. Dennoch ist die Entwicklung von Title Fight weiterhin alles andere als langweilig, vorhersehbar oder gar radiofreundlicher. Die Jungs aus Pennsylvania bedienen sich längst vergessener Stil-Elemente und überraschen. Nach dem Grunge-Trend der vergangenen Jahre, an dem Title Fight einen gehörigen Anteil haben, könnten sie damit eine neue Welle lostreten und wieder Nachahmer, oder positiv ausgedrückt Gleichgesinnte, finden.

Auch, wenn ‚Hyperview‘ nicht ganz so viel Energie verströmt, wie sein Vorgänger, ist es doch schön und vor allem spannend, eine Band zu beobachten, die sich ausprobiert, die mutig ist, die noch nicht auf ihrem Zenit angekommen ist und trotzdem so erwachsen klingt. Die Scheibe ist ein nächster Schritt, ein nächstes Statement für die eigene stetige Entwicklung.

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