Gipfelstürmer
In einer außerordentlich langen, pathostriefenden Mitteilung auf seiner Homepage, dem so genannten „Brief des Grafen“, bereitete der Graf seinen Abgang öffentlich vor. Ein brillanter Marketing-Schachzug im Hinblick auf die noch ausstehende Letztveröffentlichung wie auch die zugehörige Tour, ist doch so ein Abschied so ziemlich das Lukrativste, was einer Band wie Unheilig noch widerfahren kann. Der Graf wird während der kommenden Monate noch mal so richtig absahnen und dann seinen Hut nehmen (sollte er denn einen haben) und verduften, ohne dass er sich einer Schuld bewusst wäre. Und mal ehrlich: Wer würde, wer könnte dem Mann das verübeln?
‚Gipfelstürmer‘ heißt seine achte und letzte Absonderung; eine bullige Dampflok prangt auf ihrem Cover, schnaubend und tutend schleppt sie das Album in jedermanns noch so kleinen Bahnhof. Motivsprache, die keinen Hehl aus der Erklimmungswut macht, die den glatzköpfigen Seelenschmeichler der Hemmschwellenbefreiten auf den letzten Höhenmetern der Karriere befallen hat. Seine Gräflichkeit ist schon lange vorher an Bord und schaufelt Kohle für die Fahrt rauf zum Gipfelkreuz der Charts. Dort oben wartet noch mehr Kohle, die geschaufelt werden will. Andere Kohle. Bessere.
Über 16 Tracks treten Unheilig das Bergsteiger-Motiv platt und schlachten, ja räubern es aus. Songs wie ‚Hinunter Bis Auf Eins‘ oder ‚Goldrausch‘ – beides schamlose Rammstein-Imitate – tragen bereits einen duftenden Köder im Titel; die übrigen machen ihren Komponisten auf anderem Wege bereitwillig zum Affen. Inbrünstig-idealistische Fahnenappelle der Nächstenliebe, pompös produziertes Rechtschaffenheitsragout und donnernde Discountermelodien, wohin man auch blickt. Mit ‚Zeit Zu Gehen‘ öffnet sich zur Abschiedsfeier ein eigens gebundenes Sammelalbum mit den abgedroschensten Abschiedsphrasen, die der Volksmund kennt. Die Musik dazu: absolut perfekt – im widerlichsten Sinne des Wortes. ‚Gipfelstürmer‘ will jeden – Sprachanfänger eingeschlossen -, kennt jeden und setzt auf die größten gemeinsamen Nenner. Ein einziger großer Kindergottesdienst in genüsslicher Emphase. Aalglatt, seicht, zum Kotzen schön. So viele nur können, sollen noch mit aufspringen, wenn der Zug ein letztes Mal gen Spitze tuckert.
„Der Graf findet immer die passenden Worte“
, kommentiert ein Fan auf Facebook.
„Geht runter wie Öl“
der nächste. Völlig Recht haben sie. Man könne
„auch zwischen den Zeilen lesen und hören“
, schreibt ein anderer. Soll auch er am Ende Recht behalten? Dabei hat der Mann, der Gerüchten zufolge tatsächlich so heißen soll, wie er sich nennt – zumindest (nach)namentlich -, doch so viel unternommen, dem vorzubeugen. Zusammen weinen, sich die kleinen, kalten Hände reichen, Helden sein – sich nichts in den Mund legen lassen, nur für einen Tag. Wollte schon Bowie, will auch der Graf und hat sich die Mühe gemacht, einmal mehr einen eigenen bescheidenen Schlager abzuleiten. Noch desolater wird es, als der vorgeblich Blaublütige in sich geht und mit dem Eingeständnis des eigenen, ängstebehafteten Menschseins wieder herausschreitet auf den Königsfelsen seiner Künstlichkeit.
„Authentisch!“
, schreibt oder schreit von irgendwo ein Geblendeter, der sich für erleuchtet hält.
In der strophenweisen Aneinanderreihung von irgendwann einmal als sinnig eingestuften Kalenderblatt- und Poesiealbumssprüchen ejakuliert in ‚Weisheiten des Lebens‘ die geballte, kompromisslose Mainstreamigkeit, Nahbarkeit und Gewöhnlichkeit des scheidenden Musikprojekts. Hier geht kein Blatt Papier, kein Stück Folie, kein Sandkorn mehr zwischen die Zeilen. Watte als Musik. Mehr Konsens, mehr Vermittlung, mehr Friedfertigkeit geht einfach nicht. Fürs Kleingedruckte: Mögen auch die Verdienste des Grafen um die Musik als solche gering, seine Dichtungen noch so kleingeistig erschienen sein – viele Menschen hat er damit glücklich gemacht. Alle Übrigen macht er glücklich, indem er geht.
‚Ich werd‘ an dich denken / wenn ich am Gipfel bin‘
, posaunt der Graf. Und:
‚Manchmal hilft es / an seine Träume zu glauben‘
. Gut zu wissen.
Noch mal, für alle Begriffsstutzigen, Ungläubigen und Verfolgungswahnsinnigen. Lassen wir es uns auf der Zunge zergehen: Der Graf hört auf. Sagt’s und öffnet damit Rührung und Beweihräucherung Tür und Tor. Was wird er seinem Publikum zureden in nächsten Jahr. Was wird er viele Zugaben spielen. Was wird er sich dafür feiern lassen. Wie selbstgerecht und gönnerhaft wird er sich bedanken – allein für den ganzen Tinnef, den man ihm auf die Bühne schmeißt. Und was werden die Leute weinen, dass er geht. Was werden sie sich ihre Fan-Shirts durchflennen. Der Graf sei nicht aus der Welt, Unheilig nicht tot, wird die Beschwichtigung lauten. Untot, wie ein Zombie, denken wir uns im Stillen. Und folgern: Eine baldige Heiligsprechung könnte ihm endgültig den Garaus machen. Und damit auch den letzten ungebetenen Rückständen einer unprätentiöseren Vergangenheit. In diesem Sinne: Unheil, ade! Schön, dass dieser Spuk ein Ende hat.