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Freakstock 2015 – Friede, Freude, Jesus Freaks

4.jpg “ Unter dem Motto „New Ground, One Crowd, No Borders“ fand die diesjährige Auflage des Freakstock erstmals auf dem ehemaligen sowjetischen Militärflugplatz Allstedt in Sachsen-Anhalt statt – treffender hätte der Slogan „New Ground“ kaum sein können. Für die meisten Besucher stand nach der Ankunft die Eroberung des weitläufigen, neuen Geländes auf dem persönlichen Programm – alleine schon um sich mit der Lage der verschiedenen Bühnen, gastronomischen Angebote und dem Weg dorthin vom Campingplatz vertraut zu machen. Die 2,5 km lange Rollbahn wurde kurzerhand zum Parkplatz umfunktioniert, an den sich auf einem schmalen aber sehr langen Grünstreifen am Waldrand der Campplatz anschließt. Die musikalischen Veranstaltungen finden überwiegend auf der Hauptbühne „Herzstück“ sowie stilistisch getrennt in fünf ausrangierten und bewachsenen Beton-Flugzeughangaren statt. Die so geschaffene Atmosphäre ist einzigartig und da die Hangare etwas entfernt voneinander liegen, fühlt sich der Metalhead nicht von den Electro-Beats gestört und Punk der nicht vom Folk-Anhänger. Wobei diesbezüglich ohnehin eine weitere Besonderheit des Freakstock zu beobachten ist: Wohl auf keinem Musikfestival ist überhaupt eine solche Vielfalt an Menschen beobachten. Hier darf jeder sein, wie er ist und dementsprechend bunt ist Teilnehmerschar: Man sieht tätowierte Papas mit Bärten und Fleshtunnels, Metalheads mit langen Haaren und Jeans-Kutten, Punks mit Irokesenschnitt und Nietenarmbändern, leicht ergraute Hippies und Neo-Hippies im Goa-Style, Gothics in schwarzen Gewändern, Skater und unzählige „Normalos“ jeden Alters.

2.jpg „Christen sind spießige Langweiler, die sich einem verstaubten, längst überholten Glauben verschrieben haben? Auf dem Freakstock definitiv nicht! Die Kreativität bordet an jeder Ecke über – egal ob am Getränkestand „Sterni über Bierthlehem“, in der Installation eines Trabi-Wracks als Nebelmaschine oder den eigens fürs Festival gebauten Kompost-Toiletten „Santiago de Kompostella“. Im „Artland-Bunker“ darf sich jeder der möchte, kreativ betätigen oder an einem Perfomance-Picknick teilnehmen. Um einfach zu Chillen oder sich zu unterhalten, gibt es Grünflächen en Masse, auf dem die mitgebrachten Campingstühle gute Dienste leisten. Über allem gibt es die Möglichkeit, sich bei unterschiedlichsten Workshops auch Impulse für den Glauben zu holen: „Hätte Jesus ein Facebook-Profil gehabt?“ oder „Religiöser Mißbrauch“ titeln zwei Vorträge, man kann aber auch „Geilen Scheiß aus Salzteig“ anfertigen oder einen Einblick in die Shekina-Jesus Community in Goa und Thailand erhalten. Ab dem Nachmittag finden dann auf den verschiedenen Bühne Konzerte statt – wer lieber Tanzen möchte kann dies ebenfalls tun. Elektronische Musik und DJ’s stehen täglich mehrfach auf dem Programm.

3.jpg „Am Donnerstag Abend geht’s im Onkel Bang – Nomen est Omen – rockig zu. Nach der soliden Metalcore-Show von Burning Nations aus Freiburg, die mit ihrem unverfälschten Südbadisch teils amüsiertes Schmunzeln hervorrufen, aber auf jeden Fall auch mit Riffs und Breakdowns überzeugen, beginnt der Bühnenaufbau für die Symphonic Metaller NatusSumMori aus dem nahe gelegenen Aue im Erzgebirge. Schon die eigene Ästhetik der Bühnendekoration mit zwei stilisierten Kreuzen, der Outfits sowie einer schwarz lackierten Harfe lässt Rockmusik jenseits ausgetretener Pfade erwarten. Der Sound der achtköpfigen Band (2 Gitarren, Bass, Schlagzeug, Keyboard, Violine, sowie zwei Vokalisten) knallt ordentlich in die Gehörgänge der rund 150 Anwesenden. Vor allem aufgrund der beschränkten Akustik im Hangar-Bunker wäre noch Potential nach oben gewesen, doch das Talent der Band sowohl beim Zusammenspiel als auch bei den Kompositionen ist zu jedem Zeitpunkt sicht- und spürbar. Mit zahlreichen stilistischen Anleihen aus Symphonic Metal (Keyboard, Violine, klarer Gesang), Black- und Deathmetal (Growls und Screams) sowie Neoklassik und Gothic Metal haben die Sachsen definitiv einen sehr interessanten und geschmackvollen eigenen Mix gefunden.

1.jpg „An etlichen Stellen wie dem Wechsel von klarem Gesang von Harfistin Corina Roßner und den Growls von Sänger Benjamin Przybysz beim Titel ‚Nach dem 1000 Jahren‘ erinnert die Band an die frühen Tage der für diesen Mix berühmten Theatre of Tragedy. Dennoch grenzen sich die Sachsen durch den unter völlig anderen Vorzeichen stehenden inhaltlichen Ansatz und die deutschen Texte von den Genreprägenden und inzwischen leider aufgelösten Norwegern ab. Die Texte von NatusSumMori sind christlich inspiriert und handeln vom jüngsten Gericht, Verdammnis aber auch dem liebenden Gott der Bibel. Damit verkörpern sie einen vordergründigen Gegensatz von Stil und Inhalt, mit dem auch christliche Black- oder Deathmetal-Bands zu kämpfen haben. Dennoch ist das Ganze eine runde Sache und macht großen Spaß. Przybysz hat eine ordentliche Bandbreite an derbem Gesang drauf und die Gitarren geben ebenfalls ordentlich Gas. Die Sachsen dürften für etliche der anwesenden Besucher eine vielversprechende Neuentdeckung gewesen sein. Nach NatusSumMori geht es im Onkel Bang am Donnerstagabend mit I Am The Deceiver, einer ebenfalls beeindruckend talentierten jungen Metalcore-Band aus Hamburg. Die Herren sind nochmals einige Jahre jünger als ihre düstermetallischen Vorgänger auf der Bühne, überzeugen aber live noch um einiges mehr als ihre Kollegen von Burning Nations. Wer auf Metalcore mit deftigem Gesang und Breakdowns bis zum Anschlag à la Parkway Drive, Breakdown in Sanity oder August Burns Red steht, der findet hier an diesem Abend nochmals absolut sein Ding. Danach gehts zum Ausklange des Tages auf ein bis sieben kühle Bier zum „Sterni über Biertlehem“ direkt vis a vis.
5.jpg „Am Freitagabend stehen um 22 Uhr SEA+AIR als Überraschungsgast auf der großen Hauptbühne. Das Duo aus dem Ehepaar Daniel Benjamin und Eleni Zafiriadou ist mit seinem innovativen „Ghost Pop“ in der deutschen Musikszene gerade voll am durchstarten. Nachwuchspreise, umfangreiche Touren, Anfragen von großen Namen der Musikszene und natürlich die wunderbare Musik sprechen eine klare Sprache. Auch die ersten Rezensionen zum Ende August erscheinenden Album „Evropi“ lassen erahnen, daß der Aufstieg des deutsch-griechischen Duos gerade erst richtig beginnt. Die Live-Qualitäten und die daraus resultierende Begeisterung des Publikums auf dem Freakstock unterstreichen diese Ambitionen eindrucksvoll. Denn nicht nur die rein technischen Qualitäten der Musiker (Benjamin spielt an diesem Abend mehrmals mehrere Instrumente gleichzeitig und singt dazu, Zafiriadous Stimme überzeugt genauso auf der ganzen Linie wie ihr Verve an Tasten und Saiten) sondern vor allem auch die kompositorische Vielfalt und das emotional sehr ansprechende Rückgrat der unterschiedlichsten Songs vereinen sich in einem packenden Auftritt. Egal ob ohrwurmige Indie-Pop-Perlen wie ‚The Heart of the Rainbow‘, die folkige-bluesige Nummer ‚Yeah I Know‘ oder die vom Cembalo und zweistimmigem Gesang dominierte, minimalistisch-geniale Ballade ‚You Don’t Care About Me‘ – Gänsehautmomente gibt es an diesem Abend zuhauf. Der unverkrampft sympathische Benjamin ist mit seinem Publikum zudem locker im Gespräch. Über die jüngste Tour in Griechenland und dem politischen Statement, nicht alles zu glauben, was über die krisengebeutelten Griechen in den Deutschen Zeitungen steht. Begeisterte Anekdoten vom letzten Freakstock-Besuch des Sängers und charmant-augenzwinkernd in Gedichtform vorgetragene Hinweise auf den Merchandise-Stand – all das trägt ebenfalls zum begeisternden Gesamtbild des wundervollen Duos bei. SEA+AIR sind zwei „echte“ Menschen, die einander lieben und gemeinsam Musik machen. Wundervoll intelligente und vielseitige Popmusik.

6.jpg „Der Samstag verläuft auf der Hauptbühne stilistisch erneut so abwechslungsreich, daß das Programm musikalisch Aufgeschlossene motiviert, nach dem Nachmittags-Gottesdienst zu verweilen und weitere neue, talentierte europäische Bands zu entdecken. Pawnshop Blvd. aus Belgien präsentieren als Duo erdig-rockigen Blues. Das Duo aus dem flämischen Teil Belgiens bringt seinen Sound kantig, rauh und stimmig rüber. Schlagzeuger Ismael Faes singt sehr überzeugend mit seiner traurig-rauchigen Stimme hinter seinem Mini-Drumkit hervor und Gitarrist Nick Coucke liefert die passenden Riffs dazu, die groovig ins Bein gehen. Plain aus Norwegen erfreuen die Freunde härterer Klänge, von denen bedauerlicherweise nur um die 100 anwesend sind. Allerdings dürfte daran zumindest eher das „Konkurrenzprogramm“ an allen Ecken des Festivals schuld sein als der Sound der vier Herren aus Oslo. Irgendwo zwischen Stoner Rock und Alternative Metal mit progressiven Spuren bieten die Skandinavier innovativen Sound mit jeder Menge Power und Leidenschaft. Sänger Karl-Ove und der Gitarren-Kollege an seiner Seite geben mit Stimmbändern und verzerrten Klampfen jede Menge Vollgas und sorgen für Action auch vor der Bühne. Stun aus Bremen sind keine Unbekannten, denn das Indie-Rock-Quartett hat mit seinen Alben „And At Least You Dance“ und „OK Hunter“ über die Grenzen Deutschlands hinaus die Musikpresse überzeugt. Teilweise mit Sonic Youth, The Notwist oder Sparta verglichen machen die Hanseaten dennoch ihr ganz eigenes Ding – und das mehr als nur überzeugend. Die vom Gesang geprägte melancholische Grundstimmung wird immer wieder von extrem verzerrte Gitarren akzentuiert, die nicht selten in wütenden Noise-Ausbrüchen explodieren. Einmal mehr eine emotional berührende, sehr ansprechende Rock-Band, die die Veranstalter hier für die Jesus-Freaks und ihre Familien gebucht haben. Das macht sich auch durch das inzwischen angewachsene und begeistert applaudierende Publikum bemerkbar.

7.jpg „Der Abend ist lau, man hält ein kühles Bierchen in der Hand, unterhält sich mit einem neuen Bekannten oder fläzt gemütlich in seinem Klappstuhl. Der Hauptact des Abends und gleichzeitig so etwas wie der inoffizielle Festivalabschluss ist Singer/Songwriter Stefan Honig, der inzwischen aber zu einer kompletten Band „angewachsen“ ist. Auch die Musik von Honig lässt sich nicht mehr so richtig in diese Ecke einordnen. Irgendwas wie melancholischer Indie-Folk-Pop würde es wohl ansatzweise treffen. Das ist nicht abschätzig gemeint, denn Honig und seine Liveband sind hervorragende Musiker und Songwriter, die ihre Bühnenpräsenz durch den ungefilterten, melancholischen und eigenständigen Stil erreichen. Der klingt kein bisschen prätentiös und doch durch und durch Deutsch sondern amerikanisch-folkig-gelungen. Mehrstimmiger Gesang, Ukulele, Pedal-Steel und Akustik-Gitarre sind die hauptsächlich eingesetzten Instrumente. Der Publikumsandrang ist auch an diesem Abend groß – immerhin ist der Hauptact des Tages durchaus eine Hausnummer in der Musikszene. Wo früher am Tag getanzt wurde, ist inzwischen eine beschauliche Stille eingekehrt. Pärchen halten sich in den Armen und wirken gedankenverloren und gleichzeitig sehr geerdet.

8.jpg “ Hier beim Freakstock ist das nicht nur, aber auch der Musik geschuldet. Es ist unglaublich entspannt, friedlich, zufrieden. Egal ob sieben oder siebzig, hier werden auf andere Dinge Wert gelegt als Äußerlichkeiten. Jeder kann den anderen stehen lassen wie er ist. Der gemeinsame Nenner ist der in unkonventionellen Formen gelebten Glauben an Jesus, der tiefer geht als die von Kirchen häufig präsentierte Beliebigkeit. Hier wird niemand schrägt angeschaut, hier ist es okay, während dem Gottesdienst ein kaltes Bierchen mit dem eben kennengelernten Nebenmann zu zischen. Authentische Gemeinschaft und berührende Einheit in Vielfalt leben die Jesus Freaks hier einmal im Jahr aus. Und sie Rocken, Pogen, Bangen und Dancen für den Herrn. Irgendwie sind sie ganz normale Typen – aber sie brennen für Jesus und sind auch ein bisschen durchgeknallt. Jesus Freaks eben.

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