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Engtanz

Nichts ist trauriger als Menschen, die sich nicht eingestehen wollen, dass sie älter werden und keine 18 mehr sind. Männer verarbeiten ihre Midlife-Crisis ganz unterschiedlich. Manche laufen plötzlich Marathon, andere schrauben an Autos oder kramen vielleicht ihre alten Briefmarkenalben wieder raus. Der 35-jährige Familienvater Axel Bosse hat zweifelsfrei einen der besten Wege gefunden, mit seinen alltäglichen Problemen umzugehen, mit dem erdrückenden Gefühl, dass die Zeit rennt, dass man vielleicht etwas verpasst hat. Er verarbeitet all seine Gefühle, Träume, Wünsche, Sorgen in musikalischen Geschichten. Großartig, dass daraus auch noch ein wunderbares Album entstanden ist.

Mit seinem sechsten Album ‚Engtanz‘ legt Bosse eine erwachsene, aber ebenso lebendige und nostalgische Platte vor. Ging es beim Vorgänger ‚Kraniche‘ noch darum, sich und andere von außen, aus der Entfernung, quasi aus luftiger Höhe zu beobachten, ist der Wahlhamburger von der Vogelperspektive wieder herabgestiegen für einen ‚Engtanz‘ – und zwar mit sich selbst. Selbstreflexion lautet das Motto. Er singt über sich, seinen Ist-Zustand, über alles was ihn beschäftigt und was ihn in den letzten Jahren geprägt hat. Er hat sich viel Zeit genommen, drei ganze Jahre, und das ist gut so. Er hätte ja auch einfach das Erfolgsrezept vom Vorgänger, mit der er erstmals in seiner über 15-jährigen Karriere die Gold-Marke geknackt hat, noch einmal aufwärmen können. Das wäre im Musikbusiness keineswegs ein Eklat gewesen.

Aber glücklicherweise wiederholt sich Bosse nicht gerne. Im Gegenteil: Für seinen ‚Engtanz‘ hat er sich neue Musik aufgelegt. Das Album markiert für ihn das Ende seiner Jugend. So ist es kein Wunder, dass die E-Gitarren noch mehr in den Hintergrund treten, Platz machen für akustische Klänge, aber auch Streicher, Chöre und zum Teil auch elektronische Beats. Oder für ein Feature mit Rapper Casper beim Song ‚Krumme Symphonie‘. Das muss nicht jedem gefallen, aber tanzbar bleibt die Musik allemal. Und dabei ist man hin- und hergerissen, ob man lieber zuhören möchte, wie Bosse seine zwölf Geschichten erzählt, oder doch begeistert mitsingen will. Denn Bosse singt nicht von realitätsfernen Problemchen irgendwelcher abgehobenen Popsternchen, sondern von Themen, bei denen sich die meisten irgendwo wiederfinden werden – und das mit verständlicher, aber für die deutsche Musikszene immer noch bemerkenswert großartiger Poesie.

Es geht um den Versuch, sich zu verorten, gefühlt auch mal ‚Außerhalb der Zeit‘, seinen Platz im Leben zu finden, obwohl dieses nicht immer stimmig ist und sich auch oft wie eine ‚Krumme Symphonie‘ anhören kann. Es geht um die Momente, wo die ‚Nachttischlampe‘ brennt, weil man gar nicht mehr schlafen kann vor zu vielen Grübeleien. Auch über die Vergangenheit. All seine ‚Steine‘, Altlasten aus vergangenen Tagen und Jahren, holt Bosse heraus. Er räumt sie weg, er räumt damit auf, beißt sich die Zähne an ihnen aus, weil er weiß, dass es ihm dann schließlich besser gehen wird. Dann kann er seinen ‚Engtanz‘ erst richtig genießen, eben wenn er keine Berührungsängste mehr mit sich selbst hat. Dazu gehört auch, dass man sich verpasster Chancen im Leben (‚Blicke‘) bewusst wird, sich aber ebenso in schlechteren Zeiten von anderen mitreißen lässt (‚Dein Hurra‘). Und zum Schluss nimmt Bosse mit ‚Ahoi Ade‘ Abschied von geliebten Menschen und gelebten Zeiten. Bevor man dann auf den Knopf drückt, um diese wunderschöne Platte gleich noch einmal zu hören, bleibt das Gefühl zurück, dass Bosse mit großer Spannung, aber auch mit viel Vorfreude seinem nächsten ‚Engtanz‘, seiner Zukunft, entgegenblickt.

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