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Hand. Cannot. Erase.

‚Another day on earth has passed me by / But I have lost all faith in what’s outside / The awning of the stars across the sky / And the wreckage of the night‘

Home Invasion

Joyce Vincent lebt in London, gilt als intelligent, hübsch und äußerst beliebt. Alles andere als ein Mauerblümchen also und nicht eben der Typ Mensch, um den sich keiner schert. Und doch kann sie sich unbehelligt ausklinken. Sie verschwindet von der Bildfläche, lebt mitten im Epizentrum der Gesellschaft und dabei doch nur nebenher – als Exilantin, bei lebendigem Leibe ausradiert und vergessen. Drei Jahre ziehen ins Land, bis man sie tot in ihrer Wohnung auffindet. Wie ist so etwas möglich?

Das hat sich auch Steven Wilson gefragt, der durch den Dokumentarfilm ‚Dreams Of A Life‘ auf die Geschichte der Frau aufmerksam wurde. Es fiel der Entschluss, Joyce Vincents bedrückendes Schicksal auf Lebensspanne hochzurechnen, in Musik zu überführen und im Rahmen eines Albums neu zu problematisieren. Während ‚The Raven That Refused To Sing‘ also noch ein lose zusammenhängendes Potpourri parabelhafter Kurzgeschichten servierte, stellt ‚Hand.Cannot.Erase‘ so etwas wie Wilsons Debütroman dar. Die konventionelle Einteilung in Tracks wird darunter obsolet, scheint nur noch der Anspielbarkeit durch den CD-Hörer zugestanden zu sein. Die wahre Maßeinheit dieser Platte besteht richtigerweise in Akten – und die reißen nur so aneinander. Als müsste er, der er scheinbar beiläufig die Alben der Großen produziert und die der noch Größeren wieder auf Vordermann bringt, überhaupt noch irgendjemandem irgendetwas beweisen. Vielleicht aber birgt gerade jener Integrität wegen Album für Album eine derartige Sprengkraft.

‚Hand.Cannot.Erase‘ begleitet seine Protagonistin auf ihrem Weg in die selbstgewählte Isolation. Zusehends dämmert sie fort aus einer Gesellschaft, derer sie sich nicht mehr zugehörig fühlt. Lyrisch entfacht ‚Hand.Cannot.Erase‘ Nachdenklichkeit, die sich nach und nach zur Betroffenheit verwächst; musikalisch stellt sich währenddessen überreiztes Staunen ein. Nicht weiter verwunderlich, denn für die Aufnahmen holte sich der mittelalte Routinier nicht nur die begnadete Live-Riege seiner letzten Tournee (mit Guthrie Govan, Marco Minnemann, Nick Beggs und Adam Holzman – allesamt Meister ihres Fachs) ins Studio, sondern auch Sängerin Ninet Tayeb, einen glockenhell tirilierenden Knabenchor und Katherine Jenkins, ihres Zeichens professionelle Synchronsprecherin. Sie alle sind Teil eines üppigen, gestaltwandlerischen Banketts stilübergreifender Pracht, das so komplex und durchdacht ausfällt wie das Innenleben seiner Zentralfigur. Hier ist alles mit Bedacht platziert, steht mit äußerster Entschiedenheit an seinem Ort in der Partitur. Ob nun die geerdeten Passagen auf der Akustikgitarre in ‚Happy Returns‘, die elektronisch unterlegte Spoken-Word-Intro von ‚Perfect Life‘ oder aber das exzentrische Georgel in ‚3 Years Older‘ – unter Wilsons Regie greifen sie alle ineinander, fügen sich zu einem dramaturgischen Prunkpalast des Prog zusammen, der den Lustwandler vor Ehrfurcht erstarren und Genregrenzen sich wie Wachs verformen lässt.

Die ganz großen Momente beschert ‚Ancestral‘, das im Laufe seiner 13 Minuten von minimalistisch flatternden Synthesizerflächen erst zum mächtigen Orchestralriesen, dann zum metallischen Brecher aufwallt, nur um noch eine jazzige After-Hour mit Bass und Querflöte anzuhängen, wo andere, irdischere Alben schon längst zwei, drei niedliche Tracks weiter wären. Selten war Pathos berechtigter. Notwendiger.

Die Geschichte schließt so unvermittelt und nüchtern, wie auch Joyce mit ihrem Leben schloss:

‚But I’m feeling kind of drowsy now / So I’ll finish this tomorrow‘

, verklingt der letzte Vers, und über die Kulisse senkt sich ein Schleier der Wehmut, wie ihn nur große Geschichtenerzähler drapieren können. Doch ‚Hand.Cannot.Erase‘ ist nicht bloß eine gelungene klangliche Charakterstudie, nicht lediglich klug pointierte Novelle. Steven Wilson stellt im Vorbeigehen auch die Armseligkeiten des anonymen, pseudo-sozialen, ich-bezogenen 21. Jahrhunderts an den Pranger. Und schafft wieder einmal Musik, die für ein ganzes Leben reicht – nicht nur in ihren stilistischen Querverweisen. Emotional bestechend, handwerklich gewohnt meisterhaft und entwaffnend sensibel in allen Belangen. Kurzum: Magie.

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