Vector

Wenn ich Haken nicht sowieso schon mögen würde, müsste ich ihr neues Album „Vector“ trotzdem alleine aufgrund einer Sache abfeiern: ein 45-Minuten-Album ohne Füllmaterial schlägt nämlich gerade im Progmetal ein aufgeblähtes Werk mit Längen auf jeden Fall. Die Londoner kommen auf ihrer aktuellen Scheibe richtig zünftig auf den Punkt und wecken dabei den Wunsch, nach Ende des Album einfach noch einen Durchgang (oder zwei? Oder drei?) zu wagen – der oftmals erlebte Overload nach 75 Minuten Dauergefrickel bleibt hiermit also genauso aus wie das „welchen Song hör‘ ich hier gerade?“-Syndrom.

Die Kürze des Albums kommt dabei bestimmt nicht zufällig. Im Vorfeld wurde eine Rückkehr zu riff- und metalorientierten Sounds angekündigt, und ja, das kann man so stehen lassen. Auch in Sachen Komplexität und Gefrickel legen Haken 2018 einen ziemlichen Gang zu. Die erste Single ‚The Good Doctor‘, die das Album nach einem Intro auch eröffnet, steht mit seiner Achtziger-Lastigkeit klar in der Tradition des Vorgängeralbums „Affinity“. Wo der vierminütige Song noch in den Strophen bei irgendeiner Level 42-Hitsingle mopst, auf deren Titel ich partout nicht draufkomme, gibt es schon mit dem nächsten Song ‚Puzzle Box‘ ein ziemliches Brett, das durch die Produktion des Ex-Periphery-Bassers Nolly Getgood auch entsprechend in Szene gesetzt wird. Das heißt, trotz derber, oft Metalcore-lastiger Riffs klingt alles deutlich kühler, verhackter, weitaus technischer, aufgrund der pathetischen Refrains und des weniger dynamischen Sounds aber auch deutlich konventioneller, kommerzieller und bisweilen durchaus Teenie-Vampirfilm-Soundtrack-kompatibel – Ihr wisst schon, die Songs für den Alibi-Horror-Blutvergieß-Moment. Das Album bewegt sich also stilistisch schon ein ganzes Stück vom „typischen“ Haken-Sound weg. „Ausgemerzt“ wurde beispielsweise der Neoprog-Anteil und leider auch der Großteil der mehrstimmigen Vocals, die ja eines der Trademarks – und eine der Stärken – der Band darstellten. Veränderung und Weiterentwicklung helfen zwar ganz klar, die Sache frisch zu halten, oftmals klingt „Vector“ dadurch ein wenig wie alle anderen Modern-Prog-Metal-Bands, die in den letzten paar Jahren auf den Markt drängten. Das erfordert ohne Frage eine gewisse Umgewöhnung, und die Highlights des Albums entstehen meiner Meinung nach auch immer dann, wenn der Modern-Metal-Schlag auf Alte-Schule-Progmetal trifft und dabei den typischen Haken-Sound kreiert. So zum Beispiel in der zweiten Hälfte des Longtracks ‚The Veil‘, der in mir regelmäßig den Impuls weckt, mal wieder Dream Theaters „Awake“ oder „Train Of Thought“ aufzulegen. Auch das artrockige ‚Host‘ mit jazzigen Trompetenklängen bietet dem „traditionellen“ Haken-Fan eine willkommene – und ruhigere – Abwechslung.

Doch egal, was man von der stilistischen Ausrichtung halten mag, Haken haben natürlich nicht verlernt, wie man Songs schreibt und damit auch „Vector“ trotz einiger Bedenken in die Champions League hieven. Denn auch wenn manches diesmal nach diversen „Mitbewerbern“ tönt, ist die Band all denen immer noch um ein paar Rasenlängen voraus. Haken sind schlicht eingängiger als die (fast) komplette Konkurrenz, auch bei höchster Komplexität noch jederzeit nachvollziehbar – einmal mehr muss man da einfach Ross Jennings loben, dessen abwechslungsreicher und eigenständiger Gesang einfach schon die Hälfte der Miete ist. Gerade diesmal, wo musikalisch etwas weniger „eigen“ agiert wird, kommt der enorme Wiedererkennungswert seiner Stimme umso willkommener.

Für die Zukunft darf es ganz aus Fansicht gerne wieder ein wenig mehr Abwechslung und Gefühl geben, aber auch mit konventionellerer Ausrichtung bleiben Haken das derzeitige Aushängeschild des Metal-infizierten Progsounds – oder, wie auf „Vector“, des Prog-infizierten Metalsounds.

Ähnliche Beiträge

Schreibe einen Kommentar