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The Diary

Ein Sturm zieht auf, düster, bedrohlich mit schweren Wolken. Noch ist es aber fast windstill, die See ist ruhig. Und doch wissen wir, dass er bald da ist. Irgendwann im 17. Jahrhundert steht eine junge Frau alleine am Ufer des Meeres und schaut hinaus in die Ferne, wo ihr Liebster unterwegs ist. Der Seefahrer ist zu einer zweijährigen Reise aufgebrochen. Briefe sind für die beiden Liebenden der einzige Weg, um in Kontakt zu bleiben.

‚What I’d give to hold you in my arms‘, erklärt Anneke van Giersbergen gleich zu Beginn des Doppelalbums „The Diary“. Zusammen mit Arjen Lucassen (Ayreon) hat die niederländische Sängerin das Projekt The Gentle Storm gegründet. Sieht man sich einmal die Titelliste des Doppelalbums an, wird man sich zunächst über die auf beiden Silberlingen identischen Songnamen wundern. Und tatsächlich enthält „The Diary“ jeweils zwei unterschiedliche Interpretationen der einzelnen Songs. Auf der ersten CD finden sich akustische Folksongs (Gentle), während die zweite CD dann rockigere Versionen der gleichen Stücke bereit hält (Storm). Die Vocals werden in beiden Fällen allein von Anneke von Giersbergen interpretiert, Lucassen ist „nur“ als Instrumentalist und Songwriter tätig gewesen, nicht aber als Sänger. Es war bei der Produktion sei erklärtes Ziel, sich speziell beim Songwriting auf die Akkorde und Melodien zu konzentrieren. Das ist ihm auch eindrucksvoll gelungen.

Zunächst fallen neben der wunderschönen weiblichen Gesangsstimme aber auch die exotischen Instrumentierungen insbesondere auf dem ruhigeren und rein akustisch gehaltenen ersten Tonträger auf. Streicher, Banjo und Mandoline sorgen für stimmige Folk-Atmosphäre, insbesondere im tänzerisch daher kommenden Titel ‚Heart Of Amsterdam‘. Dabei sind alle Instrumente live im Studio eingespielt worden, Keyboard- oder Synthieklänge gibt es bei The Gentle Storm nicht. Insgesamt ist diese „Gentle Side“ tatsächlich sehr angenehm und beruhigend zu hören. Wir nehmen den sanften Vocals jederzeit die Sehnsucht nach dem Liebsten draußen auf dem Meer ab, lassen uns mitnehmen auf eine entspannte akustische Reise. Alle, die hier allerdings komplexen Prog-Rock erwarten, seien vorgewarnt: Die Songs sind eingängig und relativ straight, vertrakte Tempiwechsel oder ineinander verschachtelte Strukturen sucht man auf diesem Album vergebens. Auf der „Storm“-Seite zeugt Donnergrollen und das Schlagen einer Glocke gleich zu Beginn von den „rauen“ und stürmischeren Arrangements der Songs. Auffallend ist aber auch, dass Anneke van Giersbergens stimmliche Interpretation nahezu die gleich wie auf den ersten Songversionen ist. Die Unterschiede liegen also primär in der Instrumentierung. Aggressivere Celli in bester Apocalyptica-Manier, unheilvolle Männerchöre, ein paar Drums. Der Opener ‚Endless Sea‘ bekommt mehr Pep, aber insgesamt hätte man sich doch noch mehr Unterschiede zwischen beiden Versionen gewünscht. Bei ‚Heart Of Amsterdam‘ gibt es dann endlich auch eine elektrische Rockgitarre zu hören, während sich das Schlagzeug weiterhin mehr im Hintergrund hält. Hin und wieder keimen ein paar Symphonic Metal-Momente auf, bei denen man sich an Within Temptation erinnert fühlt.

Insgesamt sind die „Storm“-Varianten der Tracks durchaus spannend und eine schöne Ergänzung zum ersten Tonträger, und doch muss man es klar sagen: Es wäre mehr drin gewesen. Nicht vom Songwriting her oder bei der gelungenen Interpretation durch Anneke von Giersbergen, denn beides kann man eigentlich nicht besser machen. Aber teils sind beide Songvarianten doch etwas zu ähnlich, und wenngleich die „Gentle“-Versionen schön beruhigend und soft daher kommen, ist es beim „Storm“ keinesfalls ein Orkan, der da weht. Vom lauen Lüftchen bis zur kräftigen Brise ist alles vorhanden, aber so wirklich richtig stürmisch ist die See auch auf CD zwei nicht. Wer damit leben kann und kein Metal-Album erwartet, bekommt qualitativ hochwertiges Songmaterial irgendwo zwischen (softem) Nightwish, Within Temptation und Lucassens eigenem Ayreon. Und alle, die eine der schönsten Stimmen des Progressive- und Symphonic hören wollen, kommen an Anneke van Giersbergen ohnehin nicht vorbei.

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