Run
Wie drückt man Zorn aus? Oder Euphorie. Sehnsucht. Und den schlagartigen Stimmungswechsel zwischen diesen Emotionen. ‚Run‘ zeigt, wie es geht. Es scheint, als habe Awolnation ein Geheimrezept dafür entdeckt, jegliche Art von Gefühl in ihren Songs transportieren zu können – wobei das Wütende und Aufgeregte bei ihnen wohl an erster Stelle steht. Selten verkörperte eine Band so viele Facetten an emotionaler Musik innerhalb eines Albums wie die Kalifornier Truppe um Frontmann Aaron Bruno alias Awol. Und eben dieser Facettenreichtum lässt kaum einen Song wie den anderen klingen, was somit pure Abwechslung liefert.
Dies wird auch darin deutlich, wie vieler unterschiedlicher Genres sich bedient wurde. ‚Fat Face‘ beispielsweise ist ein gospelartiger Piano-Song mit mehrstimmigem Background, in dem Bruno gegen Ende im Vergleich zum ruhigen, fast meditativen Gesang seine letzte Strophe herausschreit. ‚Jailbreak‘ erinnert an einen modernen Arbeiterblues derer, die im amerikanischen Gefängnis am Straßenrand den Hammer schwingen. ‚Headrest For My Soul‘ ist zwei minütiger, halb akustischer behutsamer Gitarren-Countryfolk. Dagegen schraubt die Hardrock-Nummer ‚Dreamers‘ den Puls in die Höhe und wäre ein guter Ersatz für die zuletzt schwächelnden Linkin Park (aber das ist ein anderes Fass, welches hier verschlossen bleiben soll). Die ruhige Ballade ‚Holy Roller‘ entspannt das Gemüt dann wieder und lässt mit seinem E-Gitarrensound für kurze Zeit Jeff Buckley wieder zum Leben erwecken.
Da kann man Awolnation auch verzeihen, dass die Platte mit dem wohl schwächsten Track beginnt: der Opener ‚Run‘ tönt fast durchweg auf nur einem Akkord vor sich hin, gepaart mit einer monotonen, langatmigen Melodie. Bis in der Hälfte die Musik aussetzt und eine Stimme zuruft: ‚Run!‘ – und schlagartig die Action losgeht. Plötzlich befindet man sich in einer mentalen Verfolgungsjagd, begleitet von einer Mischung aus Garage-Rock, dröhnend-dreckigem Synthie und psychedelischem Gesang (
I am a human being, capable of doing terrible things
). Und doch ist der gewollte Effekt dann doch zu beklemmend und teils unangenehm zu hören. Dafür ist der letzte Track umso besser: ‚Drinking Lightning‘ liefert ‚Run‘ mit leicht aufbfausender Synthiefläche und langsamem Beat den schließlich perfekten, ruhigen Ausklang, den diese Platte verdient.
Und so gut auch die kleinen Abstecher von Awolnation in andere Stilistiken sind, so bleibt doch ‚Hollow Moon (Bad Wolf)‘ der beste Song des Albums. Denn er verkörpert die selbe enorme Synthie-Power, die bereits ihren Hit ‚Sail‘ auszeichnete. Nur diesmal weicht die depressive Stimmung einer haltlosen Euphorie, die nach einer stampfend wuchtigen Strophe abrupt zu einem galoppierendem Refrain-Beat und vielleicht einer der besten Zeilen, die es momentan im Popgeschäft gibt, wechselt:
‚I’m a-make a deal with the bad wolf, so the bad wolf don’t bite no more.‘
. Diese halb gerappte Linie ist in seiner melodisch simplen Art genial und bleibt definitiv im Ohr hängen.
Nach 14 Songs kann man nur sagen: man hat gleich wieder Lust, sich das ganze Album noch mal reinzuziehen. Hier hat man das Phänomen, dass bei der kreativen Bandbreite an starken Songs tatsächlich erstmal wenig im Ohr hängen bleibt, was auf den ersten Blick verwirren mag. Aber sobald eine geniale Nummer vorbei war und diese im Hirn weiter rumorte, fesselte sofort die nächste wieder und verdrängte den letzten Song aus dem Gedächtnis. So etwas erlebt man nur selten, und diese Wandlungsfähigkeit bemerkt man momentan höchstens bei Gorillaz oder Alt-J. Einziger Wehrmutstropfen, den man anmerken kann: das zwar unspektakuläres, aber nettes, nah am Original gebliebenes ‚I’m on fire‘-Cover von Bruce Springsteen fehlt auf ‚Run‘. Den kann man im Streifen ’50 Shades Of Grey‘ hören – oder man spart ihn sich komplett und genießt lieber über 55 Minuten dieser genialen Platte.