Reload Festival 2015: Feuer frei!
Ein riesiger Acker stand für die Festivalbesucher bereit, nur zehn Minuten Fußweg zum Infield miten in einem Maisfeld entfernt. Doch bereits am Abend vor dem eigentlichen Festival war der Andrang auf den Campingbereich so groß, dass über Nacht zwei weitere Ausweichflächen im wahrsten Sinne aus dem Boden gestampft wurden. Ohne die tatkräftige Unterstützung der Stadt Sulingen wäre dies wohl kaum möglich gewesen. Selbst der Bürgermeister packte mit an und half kurzerhand, höchstpersönlich auf der Straße den Verkehr umzuleiten.
„Derweil lief der heimliche Wettbewerb um die am besten ausgestatteten Campingplätze seit Donnerstagmittag, dem Anreisetag, auf Hochtouren. Überall wummerten Bässe aus batteriebetriebenen Boxen, die nicht selten von gigantischen heimischen, aus Dieselgeneratoren gespeisten Musikanlagen übertönt wurden. Wer noch ausreichend Saft übrig hatte, schloss Kühlschränke, Lichtanlagen und sogar Beamer an, um es sich vor seiner Zeltburg oder seinem Campingwagen gemütlich zu machen. Man grillte die ersten Würste, vernichtete die ersten Dosen und schloss die ersten Freundschaften mit den Zeltnachbarn, bevor es am Abend zur Warm-Up-Party ging.
Selbst der heftige, nächtliche Regen, der das Camping- und Festivalgelände in eine Schlammlandschaft verwandelte und so manchen unachtsamen Zeltbauer fluchen ließ, konnte die gute Stimmung am nächsten, ersten Festivaltag nicht trüben. Schließlich stand dieser Freitag ganz im Zeichen des Metal- und Hardcore mit einem würdigen Headliner als Abschluss. Um 13:20 eröffneten Mantar das Reload Festival, ein Doom-Metal-Projekt aus Hamburg, das 2014 für den Metal Hammer Award für das beste Debüt nominiert wurde. Umso erstaunlicher, da Mantar (türk. ‚Pilz‘) nur aus zwei Leuten besteht, die mit Gitarre, Drums und Vocals auf der Bühne ebenso überzeugten wie eine fünfköpfige Band aus Bremen: Watch Out Stampede sind zweifelsfrei ein vielversprechender Newcomer in der deutschen Post-Hardcore-Szene, die 2014 das großartige Debüt ‚Reacher‘ vorlegten.
„Born From Pain sind dagegen bei weitem nicht mehr grün hinter den Ohren. Sieben Alben veröffentlichten die Niederländer seit 1997 und präsentierten sich auf der Festivalbühne als erfahrener Metalcore-Live-Act. Bei so viel Testosteron staunte das Publikum umso mehr, als Beyond The Black um kurz nach vier ihre Instrumente aufnahmen. Denn mit Jennifer Haben stand der Symphonic-Metal-Band aus Mannheim nicht nur eine begnadete Sängerin vor, sondern auch eine wahre Augenweide.
Mittlerweile hatte sich das Wetter endgültig zum Besseren geändert und die Mengen vor der Bühne den schlammigen Untergrund etwas fest getreten, als die Hardcore-Punker von Ignite mit großem Applaus am späten Freitagnachmittag begrüßt wurden. Und dass obwohl das Quintett aus Orange County, Kalifornien seine Fans seit beinahe zehn Jahren auf einen Nachfolger ihres letzten Albums ‚Our Darkest Days‘ warten lässt. Doch siehe da: Kaum hatten sie die ersten Songs gespielt, verkündete Frontmann Zoltan ‚Zoli‘ Téglás, der zwischenzeitlich für drei Jahre bei Pennywise gesungen hatte, dass Ignite schon bald ein neues, fünftes Album veröffentlichten werde. Wie man an einem kleinen musikalischen Vorgeschmack daraus sehen konnte, sind sich Ignite über die Jahre treu geblieben und politisieren weiterhin gegen Korruption, den militärisch-industriellen Komplex, hetzerische Propaganda in den Medien und anderes Unrecht in der Welt.
„Der nächste Gast hatte bei weitem nicht solche sozialkritischen Ambitionen. Nicht ohne Grund nennen Eskimo Callboy ihre Musik ‚Porno Metal‘, in der es vor allem ums wilde Partyleben geht. Kein Wunder also, dass umso mehr jüngere Festivalbesucher bei dem Sextett aus Castrop-Rauxel in der ersten Reihe tanzten, von denen jedoch kaum jemand die überspitzten Texte ernst nahm. Genauso wenig übrigens wie die Band sich selbst ernst nimmt. Mit viel Humor verbreiteten die Jungs eine großartige Stimmung unter den Zuschauern. Grund zum Feiern hatten Sie ohnehin: Ihr Sänger Kevin Ratajczak hatte seinen 30. Geburtstag und bekam prompt auch eine Torte. Allerdings nicht in die Hände, sondern ins Gesicht gedrückt.
Obgleich nicht aus heimischen Gefilden sind Architects auf deutschen Bühnen längst keine Unbekannten mehr. Mit ihrem impulsiven Mix aus Metal- und Hardcore sowie ihrer unermüdlichen Spielfreude haben sie sich die Briten hierzulande viele Freunde gemacht und durch ihren Reload-Auftritt verdientermaßen wohl noch einige mehr hinzugewonnen. Ein gelungener Auftakt für eine noch größere Sensation von der Insel.
„Enter Shikari haben zweifelsfrei in den letzten Jahren einen der außergewöhnlichsten Aufstiege in der Hardcoreszene geschafft und die Trancecoreszene obendrein maßgeblich geprägt. Von ihrer von beißender Sozialkritik durchdrungenen Musik können sich viele aktuelle, allzu sehr gemäßigte Punkbands eine große Scheibe abschneiden. Enter Shikaris‘ Musik verbindet. Nicht nur durch die Kopfhörer, sondern vor allem durch solche Liveauftritte wie beim Reload Festival. Frontmann Roughton ‚Rou‘ Reynolds war wie üblich kaum zu bremsen und hielt die Bühnenassistenz ordentlich auf Trab, die ihm schließlich das Mikrofonkabel überall hinterher tragen mussten. Erst kreuz und quer über die Bühne, dann mitten ins Publikum und wieder zurück. Doch auch bei allen anderen Bandmitgliedern spürte man die Begeisterung.
„Tobte bis zu diesem Zeitpunkt noch vor allem jüngeres Publikum vor der Bühne, so änderte es sich nach der Pause schlagartig. In der ersten Reihe standen nun Fans der älteren Heavy-Metal-Generation, deren ehemals schwarz gefärbte Haare mittlerweile vielfach von grau durchzogen waren und die zum Teil ihre Kinder mitgebracht hatten, um ihnen ihre Helden von früher zu zeigen. Einige waren vielleicht sogar Fans der alten Stunde, als sich vor mehr als 30 Jahren eine der aktuell ältesten und bekanntesten deutschen Trash-Metal-Bands gründete. Nach einigen Experimenten in den 90er Jahren sind Kreator im neuen Jahrtausend wieder zu ihrem ursprünglichen Klangwurzeln zurückgekehrt, sodass es im Jahr 2015 so schien, als habe sich kaum etwas verändert. Weder die wilden Mähnen von Sänger ‚Mille‘ und Bandkollegen noch der ebenso wilde Sound.
„Trotz einer langen Pause von einer Stunde hatte die Stimmung am ersten Festivaltag seinen Höhepunkt erreicht, als die Uhr Mitternacht schlug. Hätten die Herren von Kreator einen Preis für die besten Frisuren bekommen, so hätten die, welche nun die Bühne stürmten, zweifelsfrei einen für die beste Barttracht verdient. So stellt man sich Nordmänner vor! In Flames brachten es tatsächlich als Headliner fertig, am Ende des Abends noch einmal jung und alt vor der Bühne zu versammeln und ihre letzten Kraftreserven zu mobilisieren. Sänger Anders Fridén verkündete zwischendurch sogar, dass er vor allem auch durch die Einflüsse von Kreator angefangen hatte, Musik zu machen. Es wäre ihm eine Ehre, gemeinsam mit seinen alten Idolen auf diesem Festival zu spielen. „Am Ende des Auftritts war die Menge größtenteils so begeistert und aufgeheizt, dass die Party längst nicht vorbei war und entweder vor dem Infield selbst oder auf dem Campingplatz weiterging. Ein wenig zum Leide derer, die sich für den morgigen Tag fit schlafen wollten und Ohropax vergessen hatten.
Der Festivalsamstag stand zwar durch den zweiten Headliner Dropkick Murphys und einigen anderen Bands entscheidend stärker unter dem Stern des Irish Folk Punks, begann aber ähnlich wie der erste mit harten Gitarrenriffs. GWLT, ein Deutsch-Rap-Hardcore-Crossover-Projekt aus München, bei dem der Name Programm ist, legten mittags los. Gefolgt von Death By Stereo, einem Hardcore-Quintett aus Orange County, Kalifornien, und dem New-York-Hardcore-Urgestein Madball.
Um kurz nach vier wurden jedoch plötzlich ganz andere Töne angeschlagen. Und zwar mit Akustikgitarre, Tin Whistle, Banjo und Akkordeon. Erst nur zögernd ließ sich die Menge, die kurz zuvor noch zu harten Riffs ihre Köpfe geschwungen hatte, auf diese neuen Klänge ein, wurde aber so schnell wie ein Guinness auf ex von Mr. Irish Bastard mitgerissen, einer Irish-Folk-Punk-Band aus Münster. Schließlich stimmten alle bei ‚Drink Another Day‘ begeistert in den Refrain ein und sangen: ‚With a raised glass and a raised fist – I’ll fight my way out of this – and we’ll live to drink another day!‘ Die Celtic Rocker waren nach einer halben Stunde ebenso überrascht wie das Publikum, dass sie kurz nach ihrem Abschied schon wieder auf der Bühne standen. Die Southern-Rocker von Black Stone Cherry aus Edmonton, Kentucky, hatten sich auf dem Weg zum Festival verfahren. Großes Pech für sie, großes Glück für Mr. Irish Bastard, die kurzerhand einsprangen und sich eine dreiviertel Stunde länger in die Herzen der Festivalbesucher spielen durften.
Danach bekamen die vom Tanzen ermüdeten Beine eine kleine Pause durch die schwedische Blues-Rock-Band Blues Pills, welche die Gemüter etwas abkühlen ließ. Doch nicht für lange, denn in den Startlöchern standen bereits fünf Jungs aus dem Pott, die sich in den letzten Jahren an die Spitze des deutschsprachigen Metalcore katapultiert hatten. Die Rede ist natürlich von Callejon – ein Höhepunkt des zweiten Festivaltages für viele jüngere Besucher.
„Doch gerade beim nächsten Gast war die Begeisterung unter den vielen Metal- und Hardcore-Freunden äußerst überraschend. Wer hätte gedacht, dass sich unter ihnen so viele Taka Tuka Ultras versteckten. Tatsächlich verdichtete sich die Menge als die vier ‚Kannibalen in Zivil‘, die ‚Klosterschüler im Zölibat‘, ‚Künstler in Zwangsjacken‘, ‚Kriegsverbrecher im Zuchthaus‘, kurz die vier Rapper von K.I.Z. ihre Show begannen, eine großartige Selbstinszenierung mit einer Überdosis Selbstironie. Dabei waren die Festivalbesucher erstaunlich textsicher. Es muss wohl für die Anwohner von Sulingen ohne Zweifel etwas befremdlich gewirkt haben, dass hunderte Stimmen immer wieder ‚Ich bin Adolf Hitler‘ beim gleichnamigen Song über den Acker brüllten. Hoffentlich hatte sie jemand gewarnt oder wenigsten im Nachhinein aufgeklärt, inwieweit man die Texte von K.I.Z. ernst zu nehmen hatte.
Den Rest des Abends beherrschten zwei irisch-amerikanische Folk-Punk-Bands, die zu den Pionieren des Genres gehören. Flogging Molly aus LA und Festival Headliner Dropkick Murphys aus Boston holten noch einmal mit viel Enthusiasmus alles heraus, was es an Energie zum Tanzen, Klatschen, Singen und Springen beim Publikum zu holen gab. Ob man die beiden Bands vorher kannte, war ohne Bedeutung. Ob jung oder alt, Headbanger oder Folkfan, Bier- oder Weintrinker – keiner konnte sich den lebensfrohen, mitreißenden Songs verschließen.
Ein großartiger Abschluss des Reload Festivals, der die Fans nachher entweder todmüde aber glücklich auf ihre Schlafsäcke fallen ließ oder sie tatsächlich noch zu einer Aftershow-Party motivierte. Kaum jemand wollte am nächsten Tag abreisen. Doch nächstes Jahr heißt es mit großer Zuversicht beim Reload Festival wieder: Nachgeladen und Feuer frei.
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