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Poesie: Friedrichs Geschichte

Menschen können Menschen Unfassbares antun. Neben Juden, Sinti, Roma und Andersdenkenden fielen dem systematischen Lebensvernichtungsapparat des Drittes Reichs auch tausende Menschen zum Opfer, die aus der Sicht des Hitler-Regimes die so genannte Volksgesundheit gefährdeten und sich deswegen unter keinen Umständen vermehren durften. „Euthanasie“ lautete die gönnerhafte Bezeichnung der NS-Quacksalber für die diagnostizierte Todesreife.

Alexander Kaschte, der mit seinem Projekt Samsas Traum von Kinderliedern bis Black Metal schon die meisten Herausforderungen – meist mit Bravour – abgehakt hat, schien entweder ungesunde Langeweile befallen zu haben oder aber ein rigoroses Aufklärungsverlangen, als er über den Themenkreis seines neuen Albums entschied. Den Protagonist von ‚Poesie‘, Friedrich, lässt er ein exemplarisches, darum aber nicht minder schockierendes „Euthanasie“-Schicksal erfahren.

‚Poesie‘ krallt sich den Hörer unsanft am Schlafittchen, kaut ihn gut durch und spuckt ihn mitten im Staat gewordenen Wahnsinn wieder aus. Im Kern dreht es sich um die Greuel in der Tötungsanstalt Hadamar, hinzu kommt der totalitäre Verwaltungsunterbau. Vorschriften und Formulare werden zitiert, Deportationen detailliert umschrieben, Hähne aufgedreht. Es wird irre gelacht, psychotisch an Fingern geleckt und zum „Deutschficken“ angehalten. Vergasungsarzt Dr. Bodo Gorgaß kommt zu Wort und für die Dauer eines Zeitsprungs wechselt Kaschte in die Perspektive des unbestraft von der Gesellschaft aufgefangenen und im Verborgenen bangenden Anstalts-Teufels. Was schockiert, sind nicht die Dinge, die man schon aus dem Geschichtsbuch kennt. Es sind die Momentaufnahmen in all ihrer Profanität. Das menschliche Elend zwischen Zahlen, Daten, Strukturen und Fakten.

Vor einem Hintergrund wie diesem kann ein Album in musikalischer Hinsicht natürlich nichts anderes sein als unauffällig – und sei es mit noch so aufwändigen Riffs umschnörkelt. Genauso verbietet es sich, über einen etwaigen Wiederhörwert zu sinnieren. Oder sich vorzustellen, wie „die neuen Hits“ denn wohl live klingen mögen. Nein, hier geht es um etwas Anderes. Und um so viel mehr als die üblichen Geschmacksfragen.

Kühner Zynismus, kalte Schonungslosigkeit und messerscharfe, silbengenaue Intonation waren schon oft Kaschtes Mittel der Wahl, trugen allerdings noch nie derartig Früchte. Meinungen vorgefertigt und/oder eingeimpft werden hier gleichwohl – und zum Glück – nicht. Dafür quillt zwischen den Zeilen die eine schreckliche Gewissheit nach der nächsten hervor, mit der der Hörer allein gelassen wird. Wer auch nur ein Minimum an Menschlichkeit in sich trägt, dem wird sich die Aufgabe von ‚Poesie‘ schnell zu erkennen geben.

Dass dieses zumindest in Teilen aus dem Zusammenhang reißbare Stück Musik auch wirklich durch und durch deppensicher ist, wird zwar wohl nie ganz sichergestellt werden können. Die Bilanz stimmt dennoch. ‚Poesie‘ ist ein Schlag ins Gesicht mit allen denkbaren Nebenwirkungen – Bauchschmerzen, Übelkeit und Ekel inklusive. In Zurückhaltung oder gar so etwas wie Pietät übt es sich an keiner Stelle. Eine beachtliche, in gewissem Sinne auch tapfere Leistung. Die große Frage aber lautet: Muss man darüber überhaupt ein Album schreiben? Sicherlich nicht. Man darf aber. Und vielleicht ist ja gerade jetzt, da der braune Stumpfsinn wieder um sich greift im Lande, die Zeit dafür gekommen, die Materie derart unverhohlen an die übertünchten Wände der hässlichen deutschen Geschichte zu klatschen und dort vor sich hin stinken zu lassen. Friedrich war einer unter vielen. Viel zu vielen. Und hier heiligt ausnahmsweise einmal der Zweck die Mittel. Man kämpfe sich also durch – es wird nicht umsonst gewesen sein.

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