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Heterotopia

Ach, eigentlich hatte ich ja sowas von keine Lust auf ein Prog-Konzept-Doppelalbum. Eigentlich wollte ich mir in ordentlicher Lautstärke meine alten MSG-Platten reinpfeifen und so richtig in Nostalgie schwelgen. Aber irgendwie beobachtet mich das Cover dieses seltsamen Albums aus der Ecke. Erinnert ein wenig ans Artwork des IQ-Meisterwerks „The Wake“, oder die schrägen Zeichnungen von Geoff Mann auf den alten Twelfth Night-Scheiben. Das macht ja doch neugierig. Aber dieser Name, Schooltree… das klingt nach ironischem Hipster-Indie-Scheiß. Taugt bestimmt nix. Na, mal reinhören. Nur, damit man’s wirklich scheiße finden und eventuell nen schönen Verriss abliefern kann.

Aber, es kommt ja immer anders, als man denkt. Das (mittlerweile bereits dritte) Album der amerikanischen Formation ist nämlich eine der positivsten Überraschungen im aktuellen Progzirkus. Ja, der Bandname ist doof, aber immerhin nach Sängerin/Keyboarderin/Songschreiberin/Boss Lacey Schooltree benannt – die, Achtung, Geheimnis, eigentlich Shulbaum heißt. Und die im Info gezogenen Vergleiche mit Kate Bush sind natürlich auch Blödsinn. Aber die kommen eben jedesmal, wenn eine Frau sich an halbwegs progressiven Klängen versucht. Tatsächlich liegt „Heterotopia“ eher irgendwo zwischen New Artrock, atmosphärischen Indie-Klängen, britisch geprägtem Neoprog (hatte ich Twelfth Night bereits erwähnt?) und Danny Elfman-Soundtracks, abgeschmeckt mit einem guten Schuß launigem Pop. Zu den Fans der Band gehören übrigens so prominente Namen wie die Comedians Margaret Cho und Barry Crimmins, Aimee Mann und Dresden Dolls-Chefin (und Neil Gaiman-Muse und -Ehefrau) Amanda Palmer, die auch alle vier persönlich für die Kickstarter-Kampagne zu „Heterotopia“ in die Tasche gegriffen haben.

Die abgefahrene Storyline erinnert, genau wie die Musik bisweilen, an den Genesis-Meilenstein „The Lamb Lies Down On Broadway“, aber auch an „Alice im Wunderland“ und den großartigen, vom erwähnten Autor/Nerd-Gott Neil Gaiman und Multimediakünstler Dave McKean erschaffenen Film „MirrorMask“. Die gescheiterte, von einem Todeswunsch getriebene Musikerin Suzi folgt einer Tausendfüßler-Katze in einen endlosen Abgrund, „where she experiences the dissolution of her ego in the face of the existential insignificance one usually goes through when tumbling through a seemingly infinite abyss“ – so steht’s zumindest im online zu findenden Libretto. Alles klar? Damit geht die Story aber erst los, denn Suzis Seele ist nun getrennt von ihrem munter als Zombie weiterlebenden Körper und macht sich auf den Weg durch eine geisterhafte Parallelwelt, um Körper und Seele wieder zu vereinen. Dabei trifft sie zwar keine Lamias oder Teppichkriecher, aber die „Leitmaidens“ und die dreiköpfigen Shadows. Das Ganze steckt voller Metaphern und obskurer Anspielungen, die sich unmöglich hier aufzählen lassen. Da hilft nur, diese eigentümliche und von schräg-schwarzem Humor und überraschenden, höchst bodenständigen Selbsterkenntnissen geprägte Welt selbst zu erkunden.

Dank der melodischen, höchst eingängigen Songs und dem völligen Verzicht auf selbstzweckhaftes Instrumentalgedudel (abgesehen von der ‚Overture‘) macht diese Erkundungsreise auch jede Menge Spaß. Lacey Schooltree verkörpert dabei höchst überzeugend die einzelnen Rollen der Handlung, ob die sachliche Erzählerin, die naive Suzi als Geist und als „badass“ Zombie (‚Zombuzi‘) oder die dreistimmigen, lästerhaften Shadows. Dabei gibt es genügend Material wie ‚Specter Lyfe‘, ‚Power Of The Ghost‘ und ‚Edge Of A Dream‘, das sich sofort im Ohr festsetzt und den Zugang zu düster-schrägen Songs wie ‚The River’/’Bottom Of The River‘, ‚Enantiodromia Awakens‘ (Gesundheit!) oder dem Genesis-lastigen ‚Cat Centipede‘ erleichtert. Natürlich erschließt sich das Album nicht beim ersten Hören, aber hier gehen endlich einmal wieder Musik und textliches Konzept Hand in Hand, wie es auch bei Meilensteinen wie eben „The Lamb Lies Down On Broadway“, „Brave“ (Marillion) oder „Operation:Mindcrime“ (Queensryche) der Fall war – auch wenn mit Letzterem freilich definitiv keine musikalischen Gemeinsamkeiten zu finden sind. Aber auch „Heterotopia“ erfüllt den Anspruch, das Textliche perfekt in musikalische Bildprache zu übersetzen. Schade bis ärgerlich, daß die Texte und das Libretto nur online zu finden sind (siehe hier), beide sind nämlich eigentlich essenzieller Bestandteil des Albums, das als Gesamtwerk genossen werden will.

Ausgegraben haben dieses Juwel einmal mehr die Prog-Underground-Spezialisten von Just for Kicks, in deren Webshop das gute Stück auch zu erstehen ist. Da das Album auch für eine Eigenproduktion über einen verdammt guten Sound verfügt, gibt es hiermit also einen heißen Tipp für alle, die nach unkonventionellem Prog-Stoff suchen, der die Genrekonventionen sprengt und gleichzeitig für sich neu definiert. Ein überraschendes und vielschichtiges Album, das in jedem Fall auch genreunabhängig zu meinen Jahreshighlights zählen wird.

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