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Abandoned

Die Könige des Konzeptalbums, zumindest im Bereich Hardcore, basteln weiter an ihrer schier endlosen Geschichte über eine Soldatenfamilie. Mag man jedenfalls denken. Schon seit der ersten Veröffentlichung widmet sich Sänger und Texter Derek Archambault den Geschichten der einzelnen Familienmitglieder. Die Geschichte einer Person wurde dabei jedoch immer außen vor gelassen: die der Mutter. Fans rechneten bei diesem Album wohl mit dem großen Finale. Defeater haben sich das aber etwas anders gedacht. ‚Abandoned‘ ist zwar wieder ein Konzeptalbum, aber diesmal geht es um einen katholischen Priester im 2. Weltkrieg, der in Europa kämpft. Es ist eine Geschichte von Schmerz und Religion. Nicht nur wegen solcher Überraschungsmomente, auch wegen ihrer erfrischenden musikalischen Herangehensweise sind Defeater mittlerweile zu einer der wichtigsten Bands des gegenwärtigen Hardcore geworden. Zugegeben: Der Vorgänger zum neuen Album, ‚Letters Home‘, schlug nicht mehr ganz so große Wellen wie die Alben und EPs davor. Defeater machten zwar da weiter, wo sie aufgehört hatten, aber irgendwie fehlte die Kreativität, die Überraschung. ‚Letters Home‘ war roh und energiegeladen. Mehr aber auch nicht. Nun folgt mit ‚Abandoned‘ das vierte Album der Bostoner.

Ruhig und melancholisch beginnt dieses mit ‚Contrition‘. Gitarren, die im Clear-Kanal gespielt werden und kurz darauf setzt Derek Archambault mit seinem verzweifelten Schreien ein. Schon nach den ersten Sekunden weiß man: Das sind die Defeater, so wie man sie kennengelernt hat. Düster und gleichzeitig erfrischend kommen die Songs daher. Drummer Joe Longobardi zeigt, dass er ein Virtuose an seinem Instrument ist. Energie und Ideenreichtum – das ausgewogene Schlagzeug ist eins der Markenzeichen von Defeater und macht die Songs immer noch etwas besonderer. Der emotionalste Song ist der, der auch den älteren Werken am ähnlichsten ist. ‚Remorse‘ besteht lediglich aus Schlagzeug, dem Shouting von Archambault, zurückhaltender, aber gezielt eingesetzter Gitarre und einem Klavier. Im Refrain entlädt sich die ganze in der Strophe angestaute Energie und lässt einem schon beim Zuhören fast zusammenbrechen. Defeater schaffen es wieder, Energie und Emotion gleichermaßen rüberzubringen. ‚Abandoned‘ ist keine Hardcore-Platte, die im Hintergrund zuhause oder zwischen zwei Bands beim Konzert laufen kann. Dem Album muss man zuhören und sich einfangen lassen. Glücklich wird man angesichts der zum Teil grauenvollen Geschichten, die Archambault erzählt, nicht, aber die oft betitelte Gefühlsachterbahn schüttelt wach.

Überraschungen gibt es auch wieder. So unterstützt James Carroll (Make Do And Mend) in ‚Borrowed & Blue‘ mit kratzigem Gesang den Refrain. Das kann man jetzt gut und erfrischend oder eben unnötig finden. Der ansonsten starke Song hätte diese zweite Stimme nicht unbedingt gebraucht, aber es sorgt für eine neue Facette bei Defeater, denn Gesang gab es hier bisher nur auf den Akustik-Stücken von Sänger Archambault am Ende eines Albums. Hierauf wird auf ‚Abandoned‘ übrigens vollkommen verzichtet. Offensichtlich haben solche Songs seit der Abkapselung von Archambault mit seinem Soloprojekt Alcoa nichts mehr auf einem Defeater-Album zu suchen. Einen Kritikpunkt gibt es dann aber doch noch, und der hat es in sich: Auf ‚Letters Home‘ war dies schon zu spüren und mit dem Label-Wechsel von Bridge9 zu Epitaph hat es sich noch verstärkt. Es geht nicht um Songwriting, nicht um Instrumentalisierung oder Zusammenstellung der Songs. Es ist tatsächlich ein Problem der Aufnahme, denn der Gesang ist deutlich zu laut und überdeckt oft den großartigen instrumentalen Part. So schön verzweifelt Archambault auch ins Mikro schreit – die mächtigen Drums, die Gitarrenwände, die sich oft in eine Art Rausch spielen und nicht zuletzt der Bass, der manchmal nicht stattzufinden scheint, gehen einfach unter. Ein Problem, deren Gründe sich nicht erklären lassen, spricht man den Bostonern schon ein gutes bis sehr gutes musikalisches Gehör zu. Die Songs hätten druckvoller, noch emotionaler, einfach besser klingen können. Ein Punkt, der die vorherigen Lobeshymnen leider kurz verstummen lässt. Kurzum: Das Album ist stark, die Songs Defeater, wie man sie liebt, aber der Sound lässt leider zu wünschen übrig.

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