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The Astonishing

Düsteres Grollen und Alarmsirenen kündigen die Ankunft der schwebenden dronenhaften NOMACs an. Wir schreiben das Jahr 2285. Das Great Northern Empire of the Americas wird Lord Nafaryus angeführt. Von Menschen erschaffene Kunst ist in dieser dystopischen Welt verboten. NOMACs nennt man die „Noise Machines“, die für die Unterdrückung der Menschen und ihre Apathie sorgen, aus der sie eines Tages ein Mann retten wird, der sein musikalisches Talent entdeckt und sich auf eine große Reise macht. Was sich wie der Inhalt eines neuen Hollywood-Blockbusters anhört, bildet in Wirklichkeit das Grundgerüst für das neue Konzept-Album der US-Prog-Metal-Könige Dream Theater.

Nach kurzem Intro lassen bombastische Keyboard-Arrangements und John Myungs markante Bassläufe keinen Zweifel daran aufkommen: Dream Theater melden sich druckvoll zurück. Melodisch, kraftvoll und abwechslungsreich legen die Amerikaner mit der Ouvertüre zu diesem Doppelalbum los. Epische Orchesterparts, Chöre, die typischen Gitarren- und Keyboardläufe stimmen schon im Opener auf die folgenden zwei Stunden ein. Dream Theater sind immer dann am besten, wenn sie eine konzeptionelle Geschichte erzählen, wie beispielsweise auf ihrem epochalen Album „Metropolis Pt. 2: Scenes From A Memory“. Trotz der erzählten Geschichte mit ihren acht verschiedenen Charakteren bleibt „The Astonishing“ natürlich ein ganz persönliches Projekt der Band – soll heißen, es wurde auf Gastsänger/innen verzichtet. Hierdurch fällt es aber auch schwerer, der Handlung zu folgen, da eben alle Figuren von James LaBrie gesungen werden – auch die weiblichen. Aber dennoch: LaBrie beeindruckt stimmlich wieder einmal und interpretiert die verschiedenen Figuren – insbesondere beim Bösewicht Lord Nafaryus.

Aber der Reihe nach: Akustische Gitarren, Piano und schwelgende Streicher: ‚The Answer‘ hätte das Zeug zu einer wunderbaren Powerballade – ist aber leider nach knapp zwei Minuten schon wieder vorbei. Hier zeigt sich, dass es Dream Theater einfach nicht nötig haben, massentaugliche Singles zu produzieren, sondern die Songs ganz und gar in den Rahmen ihres Konzepts stellen. Und wo wir gerade bei den schwülstigen Streichern sind: Textliche Klischees werden genauso bedient wie die angestrebte Hollywood-Epik: ‚If we stand together / we will never fall‘ heißt es zum Beispiel in ‚Brother Can You Hear Me‘. Warriors of the world, Krone und Ring…ach nee, das waren ja die anderen Könige des Metals. Ob der Frickelgrad ausreicht, muss jeder beim Hören für sich selbst entscheiden. Dem einen oder anderen könnten auch etwas zu wenig Härte, zu viel Bombast und mehr als genug triefender Kitsch aufgefahren werden, aber niemand wird bestreiten können, dass das Traumtheater seinem Namen wieder einmal alle Ehre macht. Diese Träume sind groß, bunt und episch. Bis zum großen Schunkel-Finale.

Das Album ist eine Zeitreise durch die 25-jährige Bandgeschichte. Retro-Keyboards erinnern an die frühen Alben der New Yorker Prog-Könige, während John Petrucci zwischendurch immer wieder die Gelegenheit bekommt, ein paar harte Riffs in die Saiten zu dreschen. Unterm Strich bleibt die Musik aber erstaunlich harmonisch und eher hymnisch denn frickelig. Handwerklich beweisen Dream Theater erwartungsgemäß wieder einmal, dass Ihnen so gut wie keine andere Band derzeit technisch das Wasser reichen kann. Und auch wenn man ja Mike Portnoy irgendwie immer noch vermisst, muss man auch vor Mike Manginis Leistung an den Drums seinen Hut ziehen. In unbändiger Spiellaune verdrischt, knüppelt und streichelt er sein gewaltiges Kit.

Wem die letzten Alben der Band zu kantig oder unmelodisch waren, wird sich freuen. „The Astonishing“ ist äußerst harmonisch, melodisch und eingängig geworden. Vielleicht sogar ein wenig zu eingängig, denn wenngleich sich das Gebotene erwartungsgemäß auf musikalisch allerhöchstem Niveau abspielt, fehlen doch ein paar Ecken und Kanten. Für die große Rebellion in einer dystopischen Welt erscheint die Musik über weite Strecken zu fröhlich und geradlinig. Es entsteht hier mehr das Bild der durch Wolken brechenden Sonne als das einer dunklen Zukunft am Abgrund. Was epische Breite und Bombast angeht, erreichen die New Yorker mit „The Astonishing“ eine völlig neue Dimension. Wer sich darauf einlässt, den erwartet eine spannende, aber nicht ganz klischeefreie Reise durch die Zukunft, ein titanischer Bulldozer im Breitwandformat, aus dessen Motoren jubilierende Chöre und dramatische Orchesterpassagen dröhnen: Die Zukunft wird von Dream Theater gerettet. Und das sind ja nun mal keine schlechten Aussichten.

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