Jürgens Jahresrückblick – Hauptsache die Mucke stimmt, wer braucht schon ein Leben
Ende des Jahres – Rückblickzeit. Wer geglaubt hatte – wie ich – dass 2022 nicht noch beschissener hätte laufen können als 2021 – Pech gehabt… Schlimmer geht immer.
Wenigstens musikalisch war allerdings auch 2022 ein Jahr mit eher überdurchschnittlichem Angebot, insbesondere im alternativen Untergrund gab es so Einiges, dass sich wirklich gelohnt hat.
Neben dem Balanceakt zwischen vielen abgesagten Konzerten und dem Dahinsiechen der Livekultur einerseits und fetten ausverkauften Konzerten andererseits haben die Live-Alben ohne Publikum ihr Ende genommen, die 2021 gezeigt hatten, dass Innovation möglich ist.
Nichtsdestotrotz ist Live vor Ort wieder – bzw. immer noch – was Gutes, auch wenn das Handyverbot auf Konzerten dringlichst kommen sollte. All diese Vollidioten, die, anstelle sich am Konzert zu freuen, nur darauf achten, das Konzert mit irgendeinem schrottigen iPhone mitzuschneiden um es sich dann zu Hause anzugucken… einfach nur erbärmlich dämlich und gleichzeitig eine schön einfache Art, den Anderen ihr Konzerterlebnis nachhaltig zu versauen. Wozu eigentlich dann noch live vor Ort sein?
Naja… immerhin gab es tolle Alben, die man in Ruhe zu Hause mit Kopfhörern genießen kann, auch ohne leuchtende Bildschirme in der Fresse.
Rekapitulieren wir mal. Zunächst sollten wir das aufführen, was gern „ehrenvolle Erwähnung“ genannt wird. Alben von etablierten Bands, die das tun, was sie können, dies sehr gut tun, die aber jetzt nicht unbedingt Alben veröffentlicht haben, die sich mit Verve an die Spitze des Backkataloges katapultieren. Dazu gehören Current 93 mit „If A City Is Set Upon A Hill“, Ordo Rosarius Equilibrio mit „Nihilist Notes“, Har Belex mit „Campo de Urnas“, Blind Guardian’s „God Machine“, Battlelore’s „The Return Of The Shadow“ und Amon Amarth mit „The Great Heathen Army“.
Ein paar Worte zu Fehlgriffen, Enttäuschungen oder einfach riesigen Haufen Grütze dürfen auch nicht fehlen. Natürlich vorn dabei hier Valborg… wenn man den Sound, den eine Schrottpresse macht, aufnimmt und 35 Minuten lang loopt erhält man jedenfalls besser strukturiertes und sinnvolleres Material als das, womit man hier gefoltert wird. Behemoth haben es erneut nicht annähernd geschafft, das Niveau von „The Satanist“ zu halten und Megadeth dümpeln oberflächlich vor sich hin. Die Lächerlichkeit dessen, was Manowar angeboten haben kennt keine Grenzen – zum Glück war es nur eine EP. Therion hätten Leviathan II mal besser sein gelassen.
Bei einigen Bands hätte man nach längerer oder gar monströs langer Pause vielleicht einen Deut mehr erwartet als nur ein Album der Qualität „naja“ – darunter Candlemass, Eucharist oder Agathodaimon. Und Heilung bieten auch nix Neues mehr.
Kommen wir also lieber zu denen, die es herausgerissen haben. Da wäre zum Beispiel der großartige Irrsinn von TROLLFEST mit FLAMINGO OVERLORD – ein Album, dass es schafft, selbst in dunkelsten Zeiten gute Laune zu verbreiten und ein Lächeln auf das Gesicht des Hörers zu zaubern. „All Drinks On Me“ ist – Sorry, Korpiklaani und Konkurrenz – der größte Rausschmeisser, seit es Alkohol gibt.
Da es hier keinerlei Genrezwänge gibt, ist unbedingt das sensationelle STARLIGHT AND ASH von OCEANS OF SLUMBER aufzuführen. Ein progressives, düsteres, postrockiges, extrem intimes und ruhiges Album, das jeden Metal hinter sich gelassen hat, gekrönt von der mit besten weiblichen Stimme die es gibt.
In die Grabbelkiste greifen und Altbewährtes herausziehen – kann man machen. Ganz besonders dann, wenn man es so überragend macht wie MOTHER OF GRAVES. „Where The Shadows Adorn“ ist eine tiefe Verbeugung vor den Debutalben von Amorphis, Katatonia und Cemetary – garniert mit einer der mittlerweile selten gewordenen Produktionen von Dan Swanö, nur um das Ganze noch wehmütig oldschooliger zu gestalten.
Im Black Metal sollen ATEIGGÄR nicht unerwähnt bleiben. Die Schweizer folgen der mundartlichen Spur, die Bands wie Grab perfektioniert haben – und reihen sich mit TYRANNENMORD knapp hinter dem letzjährigen Über-Album von Grab ein. Das Debut ist ein Werk für Liebhaber des klassischen, epischen Black Metals mit folkloristischen und bombastischen Elementen, auf höchstem Niveau dargeboten.
In einer ähnlichen, wenn auch klirrend kälteren Version darf man auch TIMOR ET TREMOR mit „Realm Of Ashes“ verorten. Intensive, eher verständliche Screams, kalte Raserei in bester Immortal-Manier kombiniert mit dem Bombast von früheren Primordial – ein wirklich grandioses Werk, ebenfalls für alle Freunde des oldschooligen Black Metals.
IN THE WOODS… haben sich zur einzigen akzeptablen Konkurrenz von Enslaved gemausert, was Prog Metal im extremeren Bereich angeht. Nur gehen In The Woods… unendlich bombastischer, schwelgerischer und melodiöser zu Werke. Das zeigt auch „DIVERSUM“, das wohl das Eingängigste der bisherigen Alben ist und mit einem ganz Wald voller Ohrwurmmelodien aufwartet.
Reden wir über Doom und Gefühl… während Candlemass ein durchschnittliches Album nach dem anderen heraushauen, haben THE TEMPLE aus Griechenland den heiligen Gral des Bombastes erlegt. OF SOLITUDE TRIUMPHANT ist das ultimative Doom-Album für melancholische Tage und Nächte bei Kerzenschein.
Nicht unerwähnt bleiben darf auch NEON NIGHT FRIGHT. Das Album von VVMPYRE ist Electro, Synth Pop, 80er Verbeugung vor Madonna, den Pet Shop Boys und allem, was Disco damals hergab. Wunderbar altmodisch und die Neonfarben auf diesem Scheibchen wefen alle lange schwarze Schatten. Wirklich gut.
Wenn ich ein Album aufführe, dass eigentlich dem Metalcore zuzuordnen ist, dann muß schon was Besonders passiert sein, da ich diese Spielart einfach nicht haben kann. DAGOBA haben mit BY NIGHT aber ein Album am Start, das alle Fehler, die dieses Genre von Natur aus macht, umschifft und noch dazu ihren Sound mit elektronischen Effekten anreichert, die klingen als hätten die Androiden aus Blade Runner Bock auf Metal. Melodisch, eingängig, hart, dystopisch, spannend.
Zu guter Letzt – und natürlich gibt es hier keine Reihenfolge, das sind einfach 10 gute Alben – muß natürlich ELLENDE genannt werden.
ELLENBOGENGESELLSCHAFT ist DAS Black Metal Album des Jahres. Ende der Geschichte.
Ende des Jahres 22.
Mit gebotener Skepsis macht 2023 hoffentlich einiges besser.