Flowers At The Scene
Tim Bowness hat sich mit der „ernsthaften“ Solokarriere relativ viel Zeit gelassen. Nach dem offiziellen Debütalbum „My Hotel Year“ war er zwar gelegentlich als Gast bei diversen Projekten (und, nicht zu vergessen, dem No-Man-Album „Schoolyard Ghosts“) zu hören, aber erst seit 2014 und dem famosen „Abandoned Dancehall Dreams“ hat sich Tim zu so etwas wie einer konstante Veröffentlichungsfrequenz und einer Identität als Solokünstler entschieden. Mit „Flowers At The Scene“ liegt nun bereits das vierte Album in Reihe vor – sein fünftes insgesamt. Das Cover ist im selben Stil gehalten wie das der Vorgänger, der selbe Font wurde verwendet, erneut hat sich Bowness eine Menge Gäste und Freunde eingeladen – und erneut präsentiert das Album richtig schönen, emotionalen, aber kitschfreien Artrock und eine ganze Reihe potenzieller Lieblingssongs.
Über die Gäste auf „Flowers At The Scene“ hat man ja im Vorfeld schon viel gelesen: ja, Steven Wilson ist als Koproduzent dabei, ebenso Colin Edwin (Porcupine Tree), David Longdon (Big Big Train), Andy Partridge (XTC), Kevin Godley (10CC), Jim Matheos (Fates Warning) und Peter Hammill höchstpersönlich. Ist aber unterm Strich alles Tapete, denn was zählt ist natürlich diese Stimme. Die trotz aller scheinbaren emotionalen Distanz ganz tief in den Schmerz dringt, die Dich dort berührt, wo die Seele sitzen soll, wenn man an sowas glaubt. Wie ein hochqualifizierter Chirurg schneidet Tim Bowness ins emotionale Fleisch, wissend, das dieser Prozess schlussendlich doch Teil der Heilung ist. Deshalb bleibt unterm Strich eben trotz der allgegenwärtigen Melancholie ein positives Feeling zurück. Und genau das ist die Stärke von „Flowers At The Scene“ und Tim Bowness im Allgemeinen. Es ist so einfach, unter Verwendung vom Moll-Akkorden und Dissonanzen ein düsteres Prog-Album zu erschaffen – das menschliche Gehirn reagiert nämlich automatisch mit Melancholie und, im Extrem, Unbehagen auf diese „Tricks“. Tim Bowness gehört aber zu der raren Spezies von Musikern, die ohne Regelbuch einfach die komplette Palette an Gefühlen ansprechen können, weil sie das Talent haben, sie an den Zuhörer weiterzuvermitteln. Peter Gabriel, Mark Hollis, Kate Bush, der erwähnte Peter Hammill, vielleicht noch Neil und Tim Finn – Bowness begegnet diesen Ausnahmekünstlern klar auf Augenhöhe, heute sogar noch deutlicher als zu no-man-Zeiten.
Damit sollen seine Songschreiberfähigkeiten freilich keinesfalls abgewertet werden. Wobei, eigentlich ist es doch fast egal, was er singt – selbst das Telefonbuch würde bei einer Bowness-Vertonung nach profunden Erkenntnissen über zwischenmenschliche Befindlichkeiten klingen. Deshalb kann Tim es sich auch erlauben, fast komplett auf eingängige Refrains zu verzichten und die Atmosphäre nicht nur in den Vordergrund zu stellen, sondern sie zum definierenden Teil des Songs zu erklären. Die Melodien setzen sich dennoch unwiderruflich fest, weil sie Wort für Wort und Ton für Ton eindringlich und fast intim zum Hörer sprechen. Das erinnert nicht nur im mit schönen Achtziger-Synthies ausgestatteten ‚Ghostlike‘ an eine Mixtur aus den ruhigeren Songs von Talk Talk zu „It’s My Life“/“The Colour Of Spring“-Zeiten und den mittleren Japan. Auch eine Camp-freie Version von The Divine Comedy kann man als Assoziation stehen lassen, beispielsweise im steichergetragenen ‚The Train That Pulled Away‘. Denn, eins sollte klar sein, „Flowers At The Scene“ ist keinsfalls eine verkopfte Angelegenheit. Auch wenn bisweilen angejazzte Harmonien und die seit no-man-Zeiten bekannten Trompetenklänge zu hören sind, das Album klingt leicht, luftig, unangestrengt, dank dieser Zutaten gar ein wenig verträumt bis schläfrig, aber jederzeit mit angenehmer Pop-Attitude. Wenn auch zugegebenermaßen einem eher „erwachsenen“ Popverständnis. In ‚Rainmark‘ bespielsweise präsentiert er uns ausnahmsweise einmal einen ganz konventionell komponierten Refrain, einen der Sorte, für den sich Bono schon 1987 ein Bein ausgerissen hätte. Vollkommen von Bombast und Pathos befreit landet die potenzielle Platin-Hymne dann beim Hörer eher als intimes Statement denn als Chartbreaker.
Tim Bowness schafft es mit „Flowers At The Scene“ zum vierten Mal in Folge, mit vollkommen zeitloser und authentisch klingender Musik die Messlatte im Artrock ein gutes Stück oberhalb der Konkurrenz zu legen. Schade, dass das immer noch so wenige Musikfans mitbekommen – für die Eingeweihten ist das Album aber erneut ein reines Fest und zum Ende des Jahres mit Sicherheit – und Recht! – wieder in allen persönlichen Bestenlisten anzutreffen.