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To The Bone

Steven Wilson ist, soweit darf man sich aus dem Fenster lehnen, fast im Alleingang dafür verantwortlich, daß Progressive Rock im Jahr 2017 wieder gesellschaftsfähig ist. Als Produzent und Mixer hat er mit Anathema, Orphaned Land, Marillion und Anja Garbarek und Yoko Ono gearbeitet und natürlich einen großen Beitrag zu Opeths Weiterentwicklung zur grenzensprengenden Rockband geleistet, dazu hat er diverse Genre-Klassiker von Yes, Jethro Tull oder Gentle Giant für 5.1-Ausgaben remixt. Als Musiker konnte er mit dem Wechsel seiner Band Porcupine Tree vom elektronisch beeinflußten, Pink Floyd-mäßigen Psychedelic Rock zu Tool-artigem Progmetal erste kommerzielle Erfolge verbucht, die er mit seinen bislang vier Soloalben, die alle eher Siebzigerlastigen Progrock enthielten, Stück für Stück ausgebaut.

Doch schon das eher songorientierte letzte Album „Hand.Cannot.Erase.“ spaltete die Proggemeinde – wie das eben so ist, wenn sich ein Künstler dem Underground entfernt. Der bisherige Höhe- respektive Tiefpunkt dieser Beziehung dürfte nun mit „To The Bone“ folgen. Über das sagt Wilson nämlich selbst bereits im Vorfeld, daß es ein Pop-Album sein solle. Nun sollte aber nicht verschiegen werden, daß Wilson im selben Atemzug Alben wie „So“ (Peter Gabriel), „Hounds Of Love“ (Kate Bush) oder „Color Of Spring“ (Talk Talk) als Bezugspunkte nennt. Und neben einigen Hits hatten die eben auch immer ganz entschieden unkommerzielles bis regelrecht schwieriges Material zu bieten. Ob mit Laurie Anderson erstellte Klanggemälde (‚Excellent Birds‘ von „So“), Prä-Radiohead-Radiohead-Songs (‚April 5th‘ und fast alles außer den Singlehits auf „Colour Of Spring“) oder auch mal einen 26minütigen Longtrack (‚The Ninth Wave‘ auf „Hounds Of Love“).

Die Verwandtschaft mit „Colour Of Spring“ ist dabei vordergründig am offensichtlichsten. Die sehr Talk Talk-mäßigen Percussions im Intro des Openers und Titelsongs werden zerschnitten von der kochenden, verzerrten Harmonica von Mark Feltham, der diese Rolle auch bei Talk Talk übernommen hatte. Doch kaum beginnt der Song „richtig“, wird trotz eingängiger Gesangslinie sofort klar, mit wen man es hier zu tun hat. Speziell, wenn nach rund fünf Minuten das Tempo herausgenommen und in klassische Porcupine Tree-Atmosphäre eingetaucht wird, sollte eigentlich jedem Wilson-Fan das Herz aufgehen. Natürlich, wer auf den Nachfolger von „The Raven That Refused To Sing“ oder „Fear Of A Blank Planet“ wartet, könnte hier durchaus enttäuscht sein. Wer sich aber an „Stupid Dream“ und „Lightbulb Sun“ erinnert oder die Werke von Blackfield und No-Man kennt, wird sich hier ohne Frage sofort zuhause fühlen. Vor allem auch, weil Steven Wilson endlich wieder den Großteil der Gitarren selbst eingespielt hat. Statt jazzigem Gefrickel also hochmelodische, gefühlvolle und songdienliche Lead- und Rhythmusgitarren.

Mit der ersten Vorabveröffentlichung ‚Pariah‘ hat Wilson den Trumpf der Scheibe bereits als Erstes ausgespielt – eine wundervoll sehnsüchtige Ballade, veredelt einmal mehr von der großartigen Ninet Tayeb, der bereits jetzt zu Wilsons absoluten Großtaten gezählt werden kann. Etwas weniger spektakulär und durchaus gewöhnungsbedürftiger ist das zweite Duett der Scheibe, ‚Song Of I‘ mit Sophie Hunger ausgefallen, ein minimalistisch-düsterer Song mit Synthiepop-Atmosphäre. So hatten sich möglicherweise Coldplay ihr „Ghost Stories“ gedacht, bevor sie es auf Radiofreundlichkeit bürsteten. Die Albumversion ist übrigens kürzer als die vorab veröffentlichte Videoversion, und das früher kommende Ende schadet dem Song keinesfalls. Ja, und da wäre noch die Hass-Nummer der „seriösen“ Wilson-Fans, ‚Permanating‘, ein durchaus launiger Dreieinhalbminuten-Song, der ebenfalls auf einem der letzten Coldplay– oder Keane-Alben wunderbar gepasst hätte und im Refrain sogar Jeff Lynne und ELO durchscheinen lässt. Aber selbst hier scheint unterschwellig immer noch die typische Steven Wilson-Melancholie durch, so daß man nach dem ersten Schreck relativ schnell seinen Frieden mit dem Song machen kann – sofern man freilich musikalisch nicht völlig in den Siebzigern hängengeblieben ist.

Aber natürlich hat Wilson nicht plötzlich alle progressiven Elemente über den Haufen geworfen. ‚The Same Asylum‘ bespielsweise ist zwar im Herzen eine lässige Akustiknummer, bricht aber im Mittelteil plötzlich in ein ans „Deadwing“-Album erinnerndes, lärmiges Inferno aus, nur um danach wieder in völlige Entspannung und ein Gilmoureskes Gitarrensolo zurückzufinden. Auch ‚People Who Eat Darkness‘ ist ein durchaus metallisch angehauchter Uptempo-Rocker (!) mit psychedelischer Kante, der an den Titelsong von „Fear Of A Blank Planet“ oder gar eine entschrägte Version ganz alter Sachen wie „Jupiter Island“ erinnert. Im neunminütigen ‚Detonation‘ gibt’s dann auch nach elektronisch-ruhigem Beginn und rockigem Mittelteil ausgiebiges Gitarrengegniedel – das diesmal nicht von Wilson selbst stammt. Ja, selbst wenn in der zweiten Hälfte sogar leichte Funk-Elemente zu vernehmen sind, dürfte das ein Fest für alle Progheads sein. Der Abschluss ‚Song Of Unborn‘ sollte dann ebenfalls wieder die alten Porcupine Tree-Fans zum Schwärmen bringen, schwimmt er doch im Fahrwasser von Albumclosern wie (ähem) ‚Stop Swimming‘ und ‚Dark Matter‘.

Alles also halb so schlimm, liebe Proggies. Ja, Steven Wilson präsentiert mit „To The Bone“ sein bislang zugänglichstes Soloalbum, doch das bedeutet noch lange nicht, daß er sich deshalb dem schnöden Kommerz zuwendet. „To The Bone“ ist unterm Strich eine weitere Facette des Künstlers, die langjährigen Beobachtern noch dazu keinesfalls unbekannt sein sollte und eine logische Weiterentwicklung von „Hand.Cannot.Erase.“ darstellt. Wenn konservative Fans damit ihre Erwartungen nicht erfüllt sehen, ist das aber deren Problem, nicht das von Steven Wilson.

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