SHIRLEY HOLMES – Ich glaub, es waren nur 50.000!

Es gibt Interviews, die einfach lustig sind, und man das schon vorher weiß. Dieses mit SHIRLEY HOLMES ist so eins. Bereits im Vorfeld gab es direkte Absprachen mit der Band, bei der es u.a. um Reiseprobleme (und entsprechende Lästereien) mit der Deutschen Bahn ging, die auch den heutigen Abend beeinflussen sollen, aber dazu später mehr. Wenn man dann vor Gesprächsbeginn – beinahe passend zum Namen unseres Magazins – mit einem Cola-Whiskey begrüßt wird, kann gar nichts mehr schiefgehen. Und so findet das Interview mit Chris, Mel Marker und Miss Ziggy nach erfolgtem Soundcheck (und einer währenddessen meganetten Betreuung durch „Show-Praktikant“ Steff, seines Zeichens Sänger bei Alarmsignal) im Backstage des Don’t Panic in Essen statt.
Hallo! Schön, dass das klappt, so kurz vor der Show!
Mel: Schön, dass du da bist! Schön, dass wir es hier hingeschafft haben und danke für die schöne Review (Anmerkung der Redaktion: hier lesen!). Wirklich, sie hat uns sehr gefreut!
Danke! Damit nehmt Ihr mir meine erste Frage fast vorweg!
Chris: Aua! Ist schon mal kein guter Tag! (lacht)
Eure Platte ist nun ein paar Wochen draußen, wie zufrieden seid Ihr mit der Resonanz – abgesehen von meiner Review?
Chris: Richtig super zufrieden!
Mel: Haben wir auch vorhin drüber geredet. Es ist seltsam, es gab keinen einzigen Verriss. Wir wissen gar nicht, was wir davon halten sollen, und wir freuen uns vor allen Dingen sehr darüber, dass die Platte verstanden wurde. Dass das, was die Künstler*innen ausdrücken wollten, die Rezipient*innen auch erreicht hat.
Ich habe in einigen Rezensionen gelesen, dass diese Platte Eure Beste ist, und damit im Umkehrschluss: (deutlich) besser als Eure vorherigen. Freut Ihr Euch da eher über die gelungene neue Scheibe, oder ärgert mehr der subtile Verriss der Vorgänger?
Mel: Das heißt ja nicht, dass die anderen schlecht sind, aber ganz davon abgesehen ist das Wichtigste, dass wir mit unseren Platten zufrieden sind. Wenn man selber ein Gefühl zu einem Album entwickelt, dann ist egal, was andere sagen. Dann kann es auch Kritik geben, ob berechtigt oder unberechtigt ist egal, wir haben alle unterschiedliche Geschmäcker. Wichtig ist für uns, dass wir authentisch sind und dass es für uns stimmig ist und wir zufrieden sind mit dem, was wir da abliefern. Und klar kommst du nie auf 100% Nenner…von daher: mich freut es. Es ist ja alles ist eine Reise, mit jedem Album entwickelt man sich wieder ein Stück weiter, hat viel erlebt, verarbeitet und ich finde es total gut.
Ziggy: Ich finde auch gar nicht, dass es so ein Verriss der anderen Alben ist, sondern ich fühle die Band eher dadurch gewürdigt, als eine Band, die auch schon eine gewisse Historie und eine Entwicklung hinter sich hat, und finde das eher spannend. Mich hat es gefreut in erster Linie, weil es tatsächlich auch mit diesem Album ein sehr intensiver Prozess war, weil wir nicht wie beim allerersten Album -wo man ja unendlich viel Zeit hat- ganz viel Zeitlimitierung vorne und hinten hatten. Es gab bestimmte Zeitfenster, in denen musste das und das passieren, und dadurch war das eben sehr dichtes Arbeiten daran. Die Songs sind alle aus Jams entstanden, das war sehr intensiv. Die Zeit selbst war intensiv, wie wir alle wissen – die Welt ist gerade besonders spürbar an vielen Stellen. Deswegen war dieses Album auch ein besonderes Ereignis und für mich ist es dann auch stimmig, dass es vielleicht das Beste ist.
Mel: Ich fände es total schade, wenn jemand sagen würde: Euer neues Album ist ja nicht sooo gut.
Ziggy: Ich habe zum Beispiel das erste Mal gedacht, das ist unser Bestes bei “Die Krone der Erschöpfung” unserer vorletzten Platte. Das fand ich, auch weil die so heterogen war, die Songs so unterschiedlich und fett ausproduzierte Rockballaden und Hymnen war alles dabei…für mich war das echt eine tolle Platte, diese jetzt finde ich auch richtig gut!

In meiner Review habe ich Eure Musik versucht zu beschreiben: „Irgendwie ist es Punk, aber auch Pop, aber auch – ja, was denn nun genau? Es werden musikalische Erinnerungen an die genialen Ideal um Annette Humpe wach“ – beschreibt Eure Musik doch einmal selbst und wie Ihr zu einem Humpe-Vergleich steht.
Mel: Ich komm ja ursprünglich aus Hagen, das ist gleich neben Herdecke, wo die Humpes aufgewachsen sind. Von daher freue ich mich sehr und finde die beiden auch klasse!
Ziggy: Ich fühle mich immer geehrt, Ideal ist eine tolle Band und hat musikalische Geschichte geschrieben. Aber ich finde, wir haben viel mehr Rock-Elemente. Aber vom Gesang kann ich das nachvollziehen und nehme das als Kompliment.
Chris: Mit Ideal verglichen zu werden, finde ich auf alle Fälle sehr angenehm, und die rangieren bei uns allen auch ziemlich weit oben.
Als Support habt Ihr vor den Donots vor knapp 1000 Leuten gespielt, als Co-Support vor den großen Ärzten gar vor 60.000, aber in beiden Fällen eben „nur“ als Vorband. Heute Abend stehen deutlich weniger Leute hier im Club (etwa 100 Gäste werden erwartet). Zweiteilige Frage: a) Wie fühlt es sich an, auf einmal vor so vielen Leuten zu stehen und b) was macht mehr Spaß: So viele, die nicht wegen einem selbst da sind, oder viel weniger, die sich extra für Euch ein Ticket gekauft haben?
Mel: Ich glaub, es waren nur 50.000! (lacht)
Ziggy: Beides geil! Vor den Ärzten ist einfach ein Event, den ganzen Tag da zu sein, und sich darauf vorzubereiten und dann auf dieser Bühne zu stehen – ein unfassbares Gefühl!
Mel: Vor allen Dingen am Tempelhofer Feld, wir wohnen quasi da.
Ziggy: Ein wirklich besonderer Moment. Das allererste Konzert jetzt auf der Tour in Dresden und auch alle Folgekonzerte mit unserem neuen Album, mit Menschen, die jetzt wegen uns gekommen sind – das hatten wir tatsächlich lange nicht, weil wir viele Supports gespielt haben- das war wirklich wahnsinnig schön!
Chris: Für mich ist auch beides super…tatsächlich finde ich die 100 Leute für uns noch schöner! Das ist wirklich toll, wenn die Leute wegen dir kommen. Ich habe gerade das Gefühl, die letzten Shows machen so unglaublich viel Spaß, es fühlt sich alles so dicht und intensiver als die 50.000. Das ist ´ne tolle Kulisse und ich würde es nicht missen wollen.
Mel: Es kommt ja wirklich immer aufs Publikum an. Ich weiß nicht, ob das überhaupt allen Leuten, die auf Konzerte gehen, bewusst ist, aber es macht ja wahnsinnig viel aus, was vom Publikum kommt, wie die Band auf der Bühne ist. Wenn da ein Publikum ist, das nur für dich da ist, dann bringen die mehr Vibes mit. Wir haben in unserer Anfangszeit vor zehn Leuten mal in Erfurt gespielt, das war eine Mordssause! Und immer, wenn Leute im Publikum sind und reingeben, überträgt sich das auf uns und wir legen noch mal ´nen Zahn zu.
Ziggy: Sonst ist es eben immer ein sozusagen geliehenes Publikum.
Kommen wir zu dieser Diskrepanz. Ich vermute, dass Ihr alle noch Brot-Jobs habt. Wie lebt es sich in diesem Wandel der Welten, am Wochenende vor Tausenden zu spielen und am Montag wieder „echter“ Arbeit nachzugehen?
Chris: Tatsächlich fand ich es beruhigend! Mir hat das nach dem Wochenende unglaublich viel gegeben, weil es mich wieder runtergeholt hat. Es macht viel mehr Spaß, sich solchen Events hinzugeben, wenn man sowas hat, was einen wieder erdet. Ich hatte genau nach diesem Wochenende, diesen Moment in meinem normalen Job, wo ich gedacht habe: Boah, krass, jetzt habe ich das erlebt, und jetzt sitzt du wieder hier, und es war auch erst so ein bisschen surreal. Das hilft auch in manchen Zeiten.
Ich habe vor einigen Wochen mit Matze Rossi über die Schwierigkeiten einer Tourfinanzierung gesprochen, und der ist alleine unterwegs. Könnt Ihr unseren Leser*innen einmal klar machen, was eine Tour als Band bedeutet und warum es so wichtig ist, Tickets und auch haptische Alben zu kaufen?
Chris: Na ja, aufgrund der aktuellen Zeit, in der Streaming eine sehr dominante Rolle spielt, aber gerade Independent-Künstler*innen wirklich nichts sehen von dem von dem ganzen Geld, ist es viel wichtiger, dass die Leute zu den Konzerten kommen, die Bands unterstützen und deren Merch und Platten kaufen, weil das das Einzige ist, wo sich eine Band noch von tragen kann. Auch für Bands steigen die Kosten und die Rahmenbedingungen wären schwieriger, -auch für die Clubs- dann folglich auch für die Bands. Ich finde es immer noch die schönsten Events, die Band live zu sehen, mit der zu sprechen und die kennenzulernen und diese Musik einfach zu erfahren.
Mel: Tatsächlich ist ja auch immer noch so, dass Touren abgesagt werden, weil nicht ausreichend Tickets im Vorverkauf verkauft werden. Ich glaube aber auch, dass das Leuten gar nicht bewusst ist. Wir haben nächste Woche unsere Record-Release-Party in Berlin und wir tatsächlich von gar nicht so wenigen Leuten, teilweise auch von Freundinnen und Freunden gehört: Ich habe aber noch kein Ticket. Obwohl die schon relativ nah an uns dran sind. Aber es ist ja auch kein Thema, über das man ständig redet, wieviel das ausmacht, dass der Vorverkauf einfach Planungssicherheit bedeutet und letztlich auch Einnahmen für das Personal. Insgesamt ist es ja auch so, dass viel weniger Leute auf Konzerte gehen seit der Pandemie und man sich ab einem gewissen Alter dreimal überlegt, ob man noch mal losgeht, oder auf dem Sofa bleibt. Das fehlt den Clubs, das hören wir an jeder Stelle jedes Mal wieder!
Ziggy: Klar ist, Streaming hat die Lage verändert für alle. Aber es war ja noch nie so, dass alle immer nur vom CD-Verkauf gelebt haben. Live spielen war immer schon ein wichtiger Teil des Einkommens, und wir als Band leben ja nicht von der Musik, aber natürlich machen wir es schon auf einem semiprofessionellen Niveau. Wir machen jetzt auch zum ersten Mal eine richtige Tour, und das hat sich durch die Pandemie geändert, mit eben dem Vorverkauf. Das ist heute fast gar nicht anders möglich; wir sind ja früher einfach losgefahren, haben irgendwie ein paar Clubs gebucht, bis dahin, da gab es ja keinen Vorverkauf mit Online-Tickets bestellen, und alle wussten: Ah, Ihr habt jetzt so und so viel Tickets verkauft, das wird jetzt das und das bedeuten… und entweder bist du dann gut oder schlecht drauf, weil du denkst: Oh ja, cool, da kommen genug Leute oder es kommen vielleicht so wenige.. das war früher wirklich so, dann hattest du so Abende gehabt wie in Erfurt, wo nur zehn Leute insgesamt da waren, aber es war trotzdem ein toller Abend. Heute würde so ein Konzert dann wahrscheinlich abgesagt. Natürlich hat man als Band auch Kosten, wie Anfahrt und so weiter…
Chris: Ich finde es immer noch krass, wie wenig Leuten das außerhalb dieser ganzen Musik-Bubble eigentlich bewusst ist. Ich habe mich vor drei Wochen mit jemandem unterhalten, der eigentlich schon sehr musikaffin ist, und trotzdem die aktuelle Situation noch gar nicht realisiert hat.

Kommen wir noch einmal zu Euren Songs: Eure Texte sind mal deutsch, mal englisch. Wann und wie kommt es zur Entscheidung, in welcher Sprache der jeweilige Song enden wird?
Ziggy: Intuition! Das ergibt sich meistens beim Jammen. Man fühlt den Song und dann kommt irgendwas raus. Es gibt pro Album vielleicht eine Kopfentscheidung, jetzt braucht es noch einen englischen oder einen deutschen vom Verhältnis, aber sonst fühlt man das.
Mel: Je nachdem, welche Sprache es ist, ist es eben auch am Ende ein komplett anderer Song. Es sind einfach zwei fundamental unterschiedliche Eindrücke, die du produzierst, und man tut manchmal Songs wirklich Gewalt an, wenn man dann versucht, da einen deutschen Text drüber zu machen.
Die Tour geht noch bis zum Ende des Jahres. Gibt es schon Pläne, wie es im kommenden Jahr weitergeht?
Mel: Nee, tatsächlich haben wir so viel gemacht und getan, geplant, dass wir gar nichts für danach geplant haben.
Chris: Wir freuen uns erst einmal über diese Platte, dass die da ist, dass wir die Songs jetzt live spielen können, weil es einfach auch lange gedauert hat, bis die so geworden sind, und wir gerade live sehr glücklich sind, und das einfach wirklich toll ist, die Platte als Ganzes zu spielen. Das müssen wir jetzt erstmal genießen!
Ziggy: „Wir bleiben hier in dem Moment“, wie es in “Sommerstadt” so schön heißt.
Das ist doch ein schönes Schlusswort! Ich wünsche viel Spaß gleich bei Show!
Wir danken, und bis gleich!
Das nachfolgende Konzert wird dann zu einem Abriss Deluxe. Der kleine Laden ist randvoll, mit einem sehr gemischten Publikum, der vermutlich jüngste Gast ist der kleine Neffe von Mel, der mit einem Gastauftritt belohnt wird, und auch ein „Dino“ verirrt sich in den Saal. Im Vorfeld machten The Destruents eine halbe Stunde ordentlich Lärm und heizen gut ein, bevor dann das Berliner Trio nach einer kurzen Umbaupause übernimmt. Das aktuelle Album macht erwartungsgemäß den größten Teil der Setlist aus und wird von sehr bewegungsfreudigen Zuhörenden ordentlich abgefeiert.
Leider hat der Veranstalter kurzfristig den Beginn eine halbe Stunde nach hinten verlegt, so dass unser Redakteur sich nach etwas mehr als der Hälfte des Programms (und vor dem Gastauftritt von Steff) zum Bahnhof aufmachen muss, um den Zug in die Heimat zu bekommen. Nur um am Gleis festzustellen, dass der Zug zwar bereitsteht, aber erst mit fast einer halben Stunde Verspätung losfährt. Danke für Nichts, DB!
Wer kann, sollte sich SHIRLEY HOLMES auf den noch ausstehenden Konzerten (hier die Übersicht) unbedingt anschauen!

Fotocredit: Wollo@Whiskey-Soda