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F.E.A.R.

Ein großartiges Album braucht bekanntlich mehr als nur x Minuten an guter Musik. Gerade im Prog-Bereich mit seinen ausufernden Instrumentalpassagen und komplexen Arrangements ist die Dynamik innerhalb der Songs oftmals das Entscheidende, das, was ein gutes Album von einem Klassiker unterscheidet. Lange Jahre hat das kaum jemand so erfolgreich vorexerziert wie Marillion, die Epen wie ‚This Strange Engine‘, ‚The Invisible Man‘ oder ‚Gaza‘ nicht nur songintern mit viel Licht und Schatten ausstatteten, sondern den schweren Brocken auch eingängige, ja, kommerzielle Songs wie ‚Man Of A 1000 Faces‘, ‚You’re Gone‘ oder ‚Power‘ entgegensetzten.

Diese Dynamik ist auf „F.E.A.R.“ diesmal leider etwas weniger prägnant zu spüren. Gerade den Rockaspekt oder die poppigen Elemente sucht man auf „F.E.A.R.“ nämlich ziemlich vergeblich. Sowohl die (unnötigerweise in Segmente unterteilten) Longtracks ‚El Dorado‘, ‚The Leavers‘ und ‚The New Kings‘ als auch die beiden „kurzen“, immer noch um die sieben Minuten langen ‚Living In F.E.A.R.‘ und ‚White Paper‘ halten sich fast ausschließlich im melancholischen, bombastisch-balladesken Bereich auf. Das muß ja nicht schlecht sein – genau dort fühlen sich Marillion ja ehedem sehr wohl. Jeder der Songs ist demnach für sich genommen natürlich absolut gelungen. Da aber auch die beiden kurzen Stücke und das Outro ‚Tomorrow’s New Country‘ musikalisch alle in exakt die selbe Kerbe hauen, braucht es im Albumkontext schon ein gewisses Standvermögen, während der 68 Minuten nicht leicht schläfrig zu werden. Immer, wenn man hofft, jetzt gehe es endlich mal etwas beherzter zur Sache (z.B. das Loop-getriebende, groovige ‚Wake Up In Music‘ aus ‚The Leavers‘ oder das als Songtitel bereits seit „Somewhere Else“-Tagen kursierende ‚Why Is Nothing Ever True‘ aus ‚The New Kings‘), fizzelt alles nach kurzer Zeit wieder in den üblichen Trott zurück.

Gerettet wird „F.E.A.R.“ allerdings dank der (nicht allzu geheimen) Geheimwaffe der Band: Steve Hogarth könnte nämlich das Telefonbuch von Bielefeld vorsingen, und das Ergebnis würde immer noch faszinieren. So liegt auch der Anziehungspunkt diesmal ganz klar auf Hs Fähigkeit, von sanftem Flüstern uber kraftvollen Gesang bis zu wehmütigem Falsettklagen die ganze Palette an Emotionen abzudecken. Und da Steve diesmal auch textlich viel zu sagen hat, reißt er mit seiner passionierten Performance das Ruder fast schon im Alleingang herum. Ob er in ‚The Leavers‘ das Getrenntsein von den Lieben eines tourenden Musikers aus allen Facetten beleuchtet, in ‚Living In F.E.A.R.‘ für Offenheit und Toleranz plädiert oder in ‚The New Kings‘ und ‚El Dorado‘ auf Gier und Machtgeilheit reagiert, es ist größtenteils diese immer noch einzigartige Stimme, die zum Zuhören zwingt und in die Musik abgleiten lässt.

Natürlich ist „F.E.A.R.“ beileibe kein schlechtes Album, dem Großteil der Konkurrenz sind Marillion immer noch mehr als eine Nasenlänge voraus. Wie aber jüngst bei Metallica müssen sich auch hier die Innovatoren, die ein ganzes Genre mitgeprägt haben, mit an der eigenen Vergangenheit messen lassen. Und ein „nur“ gutes Album kann dann schon einmal auch eine kleine Enttäuschung sein. Dennoch, als Freund getragener Prog-Mucke – und als Marillion-Fan sowieso – kann man sich das Album, das zur Zeit bei vielen Retailern bereits im Midprice angeboten wird, angstfrei in die Sammlung einverleiben. Wenn „F.E.A.R.“ auch keinen Höhepunkt der Bandgeschichte darstellt, Marillion stehen einfach für Qualität.

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