Schlagwort: Art Rock

If/When

Da haben es die New-Jersey-Progger (?) The Tea Club doch tatsächlich geschafft, bislang erfolgreich vor diesem Rezensenten zu verstecken, obwohl „If/When“ bereits das fünfte Studiowerk der Band darstellt. Wie dem auch sei, ab sofort stehen die Jungs definitiv auf der „Geilomat“-Liste.

„If/When“ ist, kurz gesagt, moderner Artrock mit Folk-, Alternative- und Prog-Einflüssen. Ein wenig Leprous hört man bisweilen heraus, aber auch Neunziger-Britpop, klassischen Prog, Smashing Pumpkins, Elbow, Jane’s Addiction, Porcupine Tree (prä-Metal), Queen, die Spätneunziger-Phase von Marillion und sogar den jungen Elton John, 10 CC und Supertramp. Was hingegen komplett fehlt, sind Metal-Elemente: und das ist auch gut so. Denn für sinnlose Kraftmeierei und Tausendmal-Gehört-Riffs sind The Tea Club einfach zu, nun ja, gut. Ob sie nun im Opener ‚The Way You Call‘ zerbrechlichen Singer-/Songwriter-Folk präsentieren oder im folgenden ‚Say Yes‘ mit Bombast und überschwänglicher Exzentrizität in den Fußstapfen von „Queen II“ wandeln, The Tea Club agieren mit einer Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit, die wahrhaft erstaunlich ist. Speziell Sänger Dan McGowan muss hier erwähnt werden, der mit enormer stimmlicher Reichweite und trotz vieler Ausflügen ins Falsett jederzeit das Geschehen dominiert und im Gegensatz zu vielen Kollegen auch in jeder Lage kraft- und gefühlvoll klingt.

In der ersten Hälfte des Albums fasst sich die Band eher kurz und präsentiert Songs wie die eingängige Ballade ‚If I Mean When‘ oder das folkige ‚Came At A Loss‘, bei dem es fast unmöglich ist, nicht zumindest ein wenig an Roger Hodgson zu denken. Lediglich das düstere ‚Rivermen‘, das akustisch mit Radiohead-Flair beginnt und sich in ein lärmendes Smashing-Pumpkins-meets-Tool-Finale steigert, fällt ein wenig aus dem Rahmen. Dafür gibt’s in der zweiten Hälfte mit ‚Creature‘ einen 27minütigen Longtrack, der so ziemlich alle Prog-Klischees aus dem Fenster wirft. Da treffen Drone-Elemente auf Pop-Melodien, eine Oldfield-mäßige Lead-Gitarre auf noisig verzerrte Klangwände und Radiohead-Akkordwendungen auf eine Runrig-mäßige, hymnische E-Bow-Gitarrenlinie, und zum Ende wird die Melodie des Openers noch einmal aufgegriffen. Das Ganze klappt, ohne einmal den Faden zu verlieren oder gar die Essenz der Band zu verwässern. Ganz großes Kino und einer der schlüssigsten Longtracks der letzten Jahre.

Auch die Produktion ist frei von Prog-Manierismen und betont eher die Alternative-Seite der Band. Genau dieser „Schmutz“ steht dem Album aber nach einer Eingewöhnungsphase durchaus gut zu Gesicht und hilft, die Band weiter vom Genre-Standard abzuheben und trotz durchaus bekannter Zutaten komplett eigenständig und originell klingen zu lassen. Beeindruckend!

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GOLD auf Tour

Nach ein paar Gigs im Frühjahr stellen GOLD ihr aktuelles Album ‚Why Aren’t You Laughing?‘ dem geneigten Publikum nun auf einer ausgedehnten Konzertreise vor. Sängerin Milena Eva kann es jetzt schon kaum erwarten: „We’re coming back to places that feel like home, as well as discovering territories that are new for us. We can’t wait…

Terraformer


Auch wenn dem Genre gerne eine Stagnation vorgeworfen wird, gibt es im Progressive Rock immer noch viele spannende Ecken auszuloten. Thank You Scientist aus New Jersey haben auf ihren bisherigen beiden Alben launig und spannend Jazz, Prog, Funk, Pop und Rock verschwurbelt, so dass man sehr gespannt sein durfte auf das dritte Werk, welches jetzt unter dem Titel „Terraformer“ gleich als 84-minütiges Doppelalbum in den Regalen der Händler steht.

Auch auf „Terraformer“ basteln die sieben Amerikaner wieder poppige Vocals, teils richtig swinglastige Bläserparts, groovende Rhythmen und knackige Gitarrenriffs zusammen, das alles durchsetzt mit schrägem Humor. Das Ergebnis: Eine interessante Mischung, die tatsächlich eine gewisse Alleinstellung der Band in das Genre bringt, einen eigenen, wiedererkennbaren Sound. Das geht schon mit einem kurzen instrumentalen Appetitanreger namens ‚Wrinkle‘ los, und die folgende Nummer ‚FXMLDR‘ ist dann gleich mal eine 8-minütige Zusammenfassung von all dem, was Thank You Scientist oder auch kurz TYS ausmacht. Ob sich Gründungsmitglied Tom Monda an der Gitarre mit dem Violonisten Ben Karras musikalisch duellieren oder Sam Greenfield ein packendes Solo am Saxophon abliefert, das alles weckt Assoziationen an aktuelle Prog-Spezialisten wie Knifeworld oder die aktuellen Aufnahmen von Gong. Später wird es dann funkig, und immer wieder überzeugen insbesonders neben den Bläserparts auch die vielen wunderbaren Gitarrensoli.

Abwechslung wurde im Prog ja schon immer groß geschrieben, so auch hier. Bei ‚Birdwatching‘ gibt es darum zwischendurch coole elektrische Rhythmen, und mit ‚Everyday Ghosts‘ folgt ein weiteres Highlight direkt im Anschluß, das immer wieder geschickt alle Brücken zwischen Jazz, Fusion, Artrock und sogar Metal überwindet. Experimentell wird es auch immer wieder gerne einmal, unterm Strich überwiegen aber die schönen Melodien und klassischen Harmonien über technischem Gefrickel.

Der Titelsong ganz am Ende legt in Punkto Härte noch einmal etwas zu und groovt sich schwerlastig durch seine gut acht Minuten Laufzeit. „Terraformer“ ist natürlich hervorragend produziert und abgemischt, gerade bei der Vielzahl der oft gleichzeitig zu hörenden Instrumente eine wichtige Anforderung an ein solch komplexes Album. Die Scheibe erscheint beim Label „Evil Ink“, einem Projekt des Coheed And Cambria Frontmannes Claudio Sanchez. Herausgekommen ist eine der besten Progressive-Rock-Scheiben dieses Sommers. Dafür sagen wir: Thank You, Thank You Scientist!

Acceleration Theory Part One: AlienA

Wartet Ihr immer noch auf Neuigkeiten bezüglich Sound Of Contact? Dann solltet Ihr Euch direkt mit dem Debütalbum von In Continuum beschäftigen. Die bestehen nämlich unter Anderem aus den ehemaligen Sound Of Contact-Mitgliedern Dave Kerzner (federführend) und Matt Dorsey, und das Album „Acceleration Theory“ besteht zum Teil aus den Songs, die für das zweite Sound Of Contact geschrieben waren.

Somit dürfte es auch nicht wundern, dass „Acceleration Theory“ wie der offizielle Nachfolger von „Dimensionaut“ klingt. Moderner Neo-Prog mit SciFi-Schlagseite, sowohl textlich als auch musikalisch, höchst eingängig mit leichtem Singer-/Songwriter-Einschlag in den Gesangslinien – und komplett ohne verstaubte Siebziger-Assoziationen. Quasi eine Mischung aus Frost*, Lonely Robot, Twelfth Night (es ist schwer, bei ‚Crash Landing‘ nicht an den TN-Klassiker ‚Für Helene‘ zu denken) und den Solowerken von Ray Wilson. So gibt es relativ straighte, rockige bis poppige Songs wie ‚Scavenger‘ in fröhlichem Wechsel mit epischem Material wie ‚Man Unkind‘ und dem dreigeteilten Elfminüter ‚Hands Of Time‘. Dazu gibt’s im instrumentalen ‚Race Through Time‘ noch ein paar Trance-Grooves – für Abwechslung ist also bestens gesorgt. Dabei sorgt Kerzner immer dafür, dass auch die „kommerziellen“ Stücke immer noch ein paar Zuckerli für die Proggies bieten und die ausufernden Songs immer noch prägnante Melodien bieten. Der Untertitel des Albums, „Part 1: AlienA“, lässt es schon vermuten: Kerzner hat hier den ersten Teil einer Konzept-Reihe aufgenommen. Die Story ist dank der abgedruckten Texte und ausführlicher Liner-Notes problemlos nachvollziehbar – nur soviel sei verraten, es handelt sich um eine Alien-Lovestory irgendwo zwischen „Captain Marvel“ (lange, bevor der Film in die Kinos kam), „Starman“ (mit vertauschten Geschlechterrollen) und „2112“ – also definitiv keine Allerweltstexte.

Auch musikalisch zieht Kerzner alle Register. Zwar hat er aus „Acceleration Theory“ keine komplette Ayreon-/Avantasia-Rockoper gebastelt, aber trotzdem finden sich diverse Gastsänger und -musiker, die helfen, das ambitionierte Werk ins Ziel zu bringen. An der Sangesfront gibt’s zum Beispiel Gabriel Agudo (Bad Dreams), der auch als offizielles Bandmitglied genannt ist und mit Kerzner den Großteil der Vocals übernommen hat. Dazu kommen Ex-Glass-Hammer- und Yes-Stimme Jon Davison und die mir bislang komplett unbekannte, mich stimmlich etwas an Cyndi Lauper erinnernde Leticia Wolf, die als „AlienA“ übrigens teilweise in einer Fantasiesprache singt und es schafft, Zeilen wie „Vieulaloo mindalu frrrrst gau“ ohne Stolpern oder unfreiwillige Komik vorzutragen. Apropos Yes: Jon Anderson höchstpersönlich hat zwar nicht mitgesungen, aber das kurze, aber schöne ‚Meant To Be‘ mitgeschrieben, bei dem dann auch alle vier Sänger zusammen zu hören sind. Auch instrumental hat sich Dave jede Menge Kumpels eingeladen: der unumgängliche Steve Hackett und Marillions Steve Rothery steuern Gitarrensoli bei, an den Drums sitzen Marco Minnemann und Nick D’Virgilio, und zwei Songs wurden von Chris beziehungsweise Tom Lord-Alge gemischt, die beide in den 1980ern so ziemlich für alles verantwortlich waren, was erfolgreich war: Prince, Peter Gabriel, Bruce Springsteen, Billy Idol, OMD, Stevie Nicks, Chaka Khan, Rod Stewart – und auch heute noch sind die beiden für die Manic Street Preachers, Halestorm, Carrie Underwood oder Nickelback tätig. Dass das Album insgesamt exzellent klingt, muss also nicht großartig betont werden.

In Continuum setzen also musikalisch das fort, was Sound Of Contact begonnen haben und legen sogar noch ein paar Schippen drauf. Auch wenn Dave Kerzners Soloalben mit Sicherheit alles Andere als schlecht waren: ich würde ihm empfehlen, In Continuum möglichst bald weiterzuverfolgen, denn es handelt sich hierbei um das bislang eigenständigste und originellste Album, für das der Sympathikus verantwortlich zeichnet. Den UK-Import könnt Ihr – wie erwartet – im Webshop von Just For Kicks eintüten.

Lights Of Change – Live In Europe 2018

Es ist kaum zu glauben, aber offensichtlich hat immer noch keines der einschlägigen Prog-Labels es geschafft, die Australier Anubis unter Vertrag zu nehmen. Spätestens mit ihrem vierten Studioalbum „The Second Hand“ haben sich Anubis nämlich als eine der interessantesten und qualitativ wertigsten Bands des modernen Prog etabliert. Die Mixtur aus modernem Artrock mit Anleihen an Muse oder Placebo und einer guten Schippe Neo-Prog im Sinne von neueren IQ ist sozusagen „the best of both worlds“ und schon alleine deshalb mit viel Potenzial für ein größeres Publikum ausgestattet. Dass sie mit besagtem großem Publikum keinerlei Probleme haben, konnten Anubis auch bei der letztjährigen Night Of The Prog unter Beweis stellen – für all die, die da nicht live dabei sein konnten, bildet ein Mitschnitt des Loreley-Auftritt nun die eine Hälfte des aktuellen Livealbums „Lights Of Change“.

Vom Debüt gibt es das Epos ‚Disinfected And Abused‘, von „Hitchhiking To Byzantium“ ‚Dead Trees‘ und ‚Silent Wandering Ghosts‘, und das großartige „The Second Hand“ ist mit ‚Fool’s Gold‘, ‚These Changing Seasons Part III‘ und dem Siebzehnminüter ‚Pages Of Stone‘ vertreten – letzteres selbstbewusst gleich als Opener gespielt. Da auf der Loreley aus Zeitgründen nichts vom „A Tower Of Silence“-Album gespielt wurde, packte die Band auf Disc 2 gleich eine Liveversion des komplette Konzeptalbums in voller Länge. Mitgeschnitten wurde hierfür als Kontrast zur großen Festivalbühne ein intimes Clubkonzert in Nieuwerkerk in Holland. Die Band überzeugt fraglos in beiden Situationen, und musikalische Durchhänger gibt’s auch keine. Die großartigen, elegischen Gitarrensoli funktionieren live genauso prächtig wie die emotionalen Vocals von Band-Geheimwaffe Robert James Moulding. Der greift an einigen Stellen auch noch zur dritten (!) Gitarre, und fast die komplete Band steuert Backing Vocals bei, so dass die atmosphärisch dichten Songs auch live ohne Abstriche umgesetzt werden können. Die Mellotron-Klänge dürften zwar eher dem Synthesizer entstammen – wer will so ein 150-Kilo-Teil schon auf Tour rumschleppen! – das macht aber für’s Gänsehautflair keinerlei Unterschied.

„Lights Of Change“ bietet Interessierten also einen guten Überblick über den Ist-Zustand im Haus Anubis (sorry, konnte nicht widerstehen) und existierenden Fans eine kompakte Best-Of-Sammlung. Der Sound klingt sauber und plastisch, aber erfreulich unbearbeitet, inklusive ein paar schiefer Töne. Die stören aber kein bisschen und machen die Sache noch dazu höchst sympathisch – live ist eben live. Die Performance auf der Loreley wirkt insgesamt etwas energiegeladener und abwechslungsreicher, klar, treffen hier doch alte und neue Songs aufeinander. Zwischen dem noch relativ IQ-lastigen ‚Disinfected And Abused‘ und dem absolut modern klingenden, aber fraglos der selbe DNA verpflichteten ‚Fool’s Gold‘ kann man die Weiterentwicklung der Band wunderbar nachhören. „A Tower Of Silence“ folgt natürlich der Dynamik des Albums und ist insgesamt getragener und atmosphärischer. Was man davon bevorzugt, ist Geschmackssache, großes Kino ist beides.

Also, liebe Progger, solltet Ihr Anubis immer noch nicht auf dem Schirm haben, hier ist ein guter Einstieg. In absehbarer Zeit werden die Jungs nämlich mit Sicherheit auch kommerziell in die Champions League des Prog einsteigen, und dann könnt Ihr smug-as-fuck behaupten, sie schon gekannt zu haben, bevor sie bekannt wurden… Zu beziehen ist das Album – wie fast der komplette Anubis-Backkatalog – bei den Import-Spezis von Just For Kicks.

GOLD: Neues Album erscheint am 5. April

Die niederländische Combo GOLD rund um die charismatische Frontfrau Milena Eva legt mit ‚Why Aren’t You Laughing?‘ ihren mittlerweile vierten Langspieler vor. Auch dieses Mal bewegt sich der atmosphärisch-komplexe Sound der Band in den eher düsteren Gefilden des Rock. Verantwortlicher Produzent ist Jaime Gomez Arellano (u.a. Paradise Lost, Grave Pleasures), erscheinen wird ‚Why Aren’t You…

Flowers At The Scene

Tim Bowness hat sich mit der „ernsthaften“ Solokarriere relativ viel Zeit gelassen. Nach dem offiziellen Debütalbum „My Hotel Year“ war er zwar gelegentlich als Gast bei diversen Projekten (und, nicht zu vergessen, dem No-Man-Album „Schoolyard Ghosts“) zu hören, aber erst seit 2014 und dem famosen „Abandoned Dancehall Dreams“ hat sich Tim zu so etwas wie einer konstante Veröffentlichungsfrequenz und einer Identität als Solokünstler entschieden. Mit „Flowers At The Scene“ liegt nun bereits das vierte Album in Reihe vor – sein fünftes insgesamt. Das Cover ist im selben Stil gehalten wie das der Vorgänger, der selbe Font wurde verwendet, erneut hat sich Bowness eine Menge Gäste und Freunde eingeladen – und erneut präsentiert das Album richtig schönen, emotionalen, aber kitschfreien Artrock und eine ganze Reihe potenzieller Lieblingssongs.

Über die Gäste auf „Flowers At The Scene“ hat man ja im Vorfeld schon viel gelesen: ja, Steven Wilson ist als Koproduzent dabei, ebenso Colin Edwin (Porcupine Tree), David Longdon (Big Big Train), Andy Partridge (XTC), Kevin Godley (10CC), Jim Matheos (Fates Warning) und Peter Hammill höchstpersönlich. Ist aber unterm Strich alles Tapete, denn was zählt ist natürlich diese Stimme. Die trotz aller scheinbaren emotionalen Distanz ganz tief in den Schmerz dringt, die Dich dort berührt, wo die Seele sitzen soll, wenn man an sowas glaubt. Wie ein hochqualifizierter Chirurg schneidet Tim Bowness ins emotionale Fleisch, wissend, das dieser Prozess schlussendlich doch Teil der Heilung ist. Deshalb bleibt unterm Strich eben trotz der allgegenwärtigen Melancholie ein positives Feeling zurück. Und genau das ist die Stärke von „Flowers At The Scene“ und Tim Bowness im Allgemeinen. Es ist so einfach, unter Verwendung vom Moll-Akkorden und Dissonanzen ein düsteres Prog-Album zu erschaffen – das menschliche Gehirn reagiert nämlich automatisch mit Melancholie und, im Extrem, Unbehagen auf diese „Tricks“. Tim Bowness gehört aber zu der raren Spezies von Musikern, die ohne Regelbuch einfach die komplette Palette an Gefühlen ansprechen können, weil sie das Talent haben, sie an den Zuhörer weiterzuvermitteln. Peter Gabriel, Mark Hollis, Kate Bush, der erwähnte Peter Hammill, vielleicht noch Neil und Tim Finn – Bowness begegnet diesen Ausnahmekünstlern klar auf Augenhöhe, heute sogar noch deutlicher als zu no-man-Zeiten.

Damit sollen seine Songschreiberfähigkeiten freilich keinesfalls abgewertet werden. Wobei, eigentlich ist es doch fast egal, was er singt – selbst das Telefonbuch würde bei einer Bowness-Vertonung nach profunden Erkenntnissen über zwischenmenschliche Befindlichkeiten klingen. Deshalb kann Tim es sich auch erlauben, fast komplett auf eingängige Refrains zu verzichten und die Atmosphäre nicht nur in den Vordergrund zu stellen, sondern sie zum definierenden Teil des Songs zu erklären. Die Melodien setzen sich dennoch unwiderruflich fest, weil sie Wort für Wort und Ton für Ton eindringlich und fast intim zum Hörer sprechen. Das erinnert nicht nur im mit schönen Achtziger-Synthies ausgestatteten ‚Ghostlike‘ an eine Mixtur aus den ruhigeren Songs von Talk Talk zu „It’s My Life“/“The Colour Of Spring“-Zeiten und den mittleren Japan. Auch eine Camp-freie Version von The Divine Comedy kann man als Assoziation stehen lassen, beispielsweise im steichergetragenen ‚The Train That Pulled Away‘. Denn, eins sollte klar sein, „Flowers At The Scene“ ist keinsfalls eine verkopfte Angelegenheit. Auch wenn bisweilen angejazzte Harmonien und die seit no-man-Zeiten bekannten Trompetenklänge zu hören sind, das Album klingt leicht, luftig, unangestrengt, dank dieser Zutaten gar ein wenig verträumt bis schläfrig, aber jederzeit mit angenehmer Pop-Attitude. Wenn auch zugegebenermaßen einem eher „erwachsenen“ Popverständnis. In ‚Rainmark‘ bespielsweise präsentiert er uns ausnahmsweise einmal einen ganz konventionell komponierten Refrain, einen der Sorte, für den sich Bono schon 1987 ein Bein ausgerissen hätte. Vollkommen von Bombast und Pathos befreit landet die potenzielle Platin-Hymne dann beim Hörer eher als intimes Statement denn als Chartbreaker.

Tim Bowness schafft es mit „Flowers At The Scene“ zum vierten Mal in Folge, mit vollkommen zeitloser und authentisch klingender Musik die Messlatte im Artrock ein gutes Stück oberhalb der Konkurrenz zu legen. Schade, dass das immer noch so wenige Musikfans mitbekommen – für die Eingeweihten ist das Album aber erneut ein reines Fest und zum Ende des Jahres mit Sicherheit – und Recht! – wieder in allen persönlichen Bestenlisten anzutreffen.

Lotus

Soen haben sich mittlerweile stilistisch ganz klar gefunden. Obwohl sich die Band um Wunderdrummer Martin Lopez (ex-Opeth) auf ihrem Debüt als ziemlich dreister Tool-Klon gerierte, hatte sich schon auf dem 2017er Drittwerk „Lykaia“ ein ziemlich eigener Sound herauskristallisiert, der irgendwo zwischen mitteldüsterem Progressive Metal, getragenem Art Rock und bisweilen durchaus kommerziellem Alternative Rock einpendelte. Das neue Album „Lotus“ rüttelt an diesem Grundrezept nur wenig. Böse ausgedrückt könnte man der Band Stagnation vorwerfen und „Lotus“ als „Lykaia 2.0“ bezeichnen. Will man es hingegen positiv sehen, konzentriert sich die Band auf ihre Stärken und hat am mittlerweile etablierten Bandsound nur mehr Feintuning vorgenommen – und dabei das musikalische Gesamtniveau tatsächlich noch einmal deutlich gesteigert.

Am Auffälligsten ist auf „Lotus“, das die Band den Gesang von Joel Ekelöf noch deutlicher als zuvor in den Vordergrund rückt. Das macht das Album noch einmal ein gutes Stück eingängiger als seine Vorgänger, und nicht zuletzt aufgrund Joels stimmlicher Ähnlichkeit zu Mikael Akerfeldt klingt bei einigen Songs ganz klar die DNA von Opeth durch. Naja, wenn man sich vorstellen kann, dass diese statt in den Siebziger-Prog eher zum melodischen Artrock Marke Porcupine Tree abgewandert wären. Mit der ersten Single ‚Martyrs‘ (knorke Video übrigens, by the way) hat die Band diesmal sogar eine richtig kommerzielle Nummer mit formatradiotauglicher Hookline am Start. Oder vielmehr, hätte, wenn sie nicht sechs Minuten lang wäre und sich den Luxus eines schönen, pianogetragenen Mittelparts a la Wilson™ gönnen würde. Erfreulich: auch wenn Martin Lopez auf „Lotus“ songdienlicher als je zuvor trommelt, natürlich muss niemand auf die musikalischen Kabinettstückchen verzichten, die man von Soen erwartet. Die sorgen für die nötige Abwechslung, kommen immer dann, wenn man sie braucht und halten den Fluss nicht länger auf als nötig. Im etwas an die letzten Soloalben von David Gilmour erinnernden Titelsong kommen Soen sogar komplett ohne Metal-Riffing aus und bauen komplett auf die traumhafte Atmosphäre, inklusive eines wunderbar elegischen Gitarrensolos. Das erinnert insgesamt ein wenig an die Entwicklung, die Baroness auf ihrem experimentierfreudigen Doppeldecker „Yellow/Green“ gemacht hatten – bleibt zu hoffen, das Soen im Gegensatz zu ihren Kollegen keine kalten Füße bekommen und demnächst wieder rückwärts marschieren. Gerade dank der stilistischen Öffnung klingen Soen heute deutlich eigenständiger als auf speziell den ersten beiden Alben.

Klammheimlich haben sich Soen in den letzten Jahren also zu einer der hochwertigsten Bands auf der dunklen Seite des Prog gemausert. Was aufgrund der fehlenden Kraftmeierei für den einen oder anderen Hörer aus dem Metal-Kreis eher unspektakulär wirken könnte, entpuppt sich für den eher auf Atmosphäre und Melodie fixierten Progger als wahre Fundgrube großartiger Songs ohne Durchhänger, die mit Bands wie Riverside, Anubis oder sogar Opeth und Steven Wilson absolut mitziehen kann. Die warme und trotz Metal-Energie und Pathos erfreulich organisch klingende Produktion rundet eine starke Scheibe, die die Band auch kommerziell gesehen ein gutes Stück weiterbringen dürfte, perfekt ab. Mein persönlicher Favorit für den mit starken Releases gespickten Februar!

TIM BOWNESS zeigt neuen Solo-Clip mit no-man-Connection

Das nächste Album von Tim Bowness steht in den Startlöchern. Das Besondere dabei ist mit Sicherheit, dass das am 1. März über Inside Out/Sony veröffentlichte „Flowers At The Scene“ zwar als Soloalbum erscheint, aber als Produktionscredit „no-man“ angegeben ist. Heißt: das Album ist in Zusammenarbeit mit seinem no-man-Bandkollegen Steven Wilson entstanden und markiert deren erste…

The Cyberiam

Der Nerd in mir freut sich ja immer, wenn er sich auf einem Prog-Album wiedererkennt. Speziell die britische Kultserie Doctor Who scheint in Progkreisen recht beliebt zu sein: Rob Reed coverte die Titelmusik, I Am The Manic Whale schrieben einen Song über den Doctor (aus Sicht seiner Erzfeinde von Skaro). Vor ein paar Jahren eröffenete Arjen Lucassen das Star One-Debüt mit einem Song über das Reisen in der TARDIS – noch früher adaptierten Pink Floyd das Thema der Serie für ‚One Of These Days‘. Die amerikanische Band The Cyberiam befindet sich also in guter Nerd-Gesellschaft, hat sie doch auf ihrem selbstbetitelten Debütalbum einen Song namens ‚Don’t Blink‘ verewigt, der mit den Worten ‚If I had a TARDIS‘ beginnt – ja, so gewinnt man die Aufmerksamkeit eines Doctor Who-Fans!

Aber das Debüt der Band hat weit mehr zu bieten als nur nerdige Lyrics. Irgendwo zwischen weniger heavy geratenen Coheed And Cambria, den Post-Morse-Ära-Alben von Spock’s Beard und Neunziger-Jahre-College-Rock-Akustikgitarren machen sich die vier Musiker auf ihrem Erstling ganz entspannt breit. Herausragend dabei das Gespür für exzellente Gesangslinien, die durchaus kommerzielles Flair versprühen und von Sänger/Gitarrist Keith Semple mitreißend umgesetzt werden. Seine hohe Stimme erinnert ein wenig an eine Mischung aus Claudio Sanchez (Coheed & Cambria) und Tommy Shaw (Styx) und ist bereits die Hälfte der Miete auf dem Album. Mit ‚The Fall‘, bei dem die erwähnten College-Rock-Anleihen besonders in den Vordergrund treten, hat die Band sogar einen Song, der in der Ära von Counting Crows und The Connels durchaus Hitpotenzial gehabt hätte. Dieser Fünfminüter ist aber eine von drei kürzer gefassten Ausnahmen, die meisten Songs des Albums haben eine Laufzeit von acht bis neun Minuten. Das ist im Prog ja erstmal nichts Ungewöhnliches. Da The Cyberiam aber generell einen ganzen Haufen Musik – über 76 Minuten! – auf ihrem Album verewigt haben, besteht durchaus die Gefahr des Verzettelns, in diese Falle sind schon Genre-Veteranen mit beiden Füßen hineingetappt. So ist das größte Problem des Albums auch, dass sich im letzten Drittel aufgrund der durch die stilistisch ziemlich eindeutig ausgerichteten Musik relativ dünn gesäten Abwechslung ein paar Ermüdungserscheinungen breitmachen. Die herausragendsten Stücke befinden sich mit Ausnahme des schönen Abschlusstracks ‚Nostalgia‘ alle in den ersten vierzig Minuten des Albums, bei den aufeinanderfolgenden ‚My Occupation‘, ‚Juxtaposer‘ und ‚Brain In A Vat‘ hingegen fehlen ausgerechnet die erwähnten herausragenden Gesangslinien, und auch die Arrangements wirken weniger zwingend, als sei der Band die Inspiration ein wenig ausgegangen. Oder vielleicht war es auch das Aufnahmebudget – die letzten beiden Songs ‚Brain In A Vat‘ und ‚Nostalgia‘ klingt nämlich auch soundtechnisch weniger schlüssig als der Rest des Albums, gut zu hören an den viel zu weit in den Vordergrund gemischten Drums in ‚Nostalgia‘. Ganz generell klingt die Band am Besten, wenn sie sich an eher entspanntem pathosbeladenem Prog- und Artrock versucht – die gelegentlich eingestreuten Metal-Riff-Parts wirken hingegen ein wenig statisch bis repetitiv und im Vergleich zum Rest des Songmaterials eher austauschbar.

Das ist aber Meckern auf hohem Niveau. The Cyberiam haben mit ihrem Debüt einen durchaus beachtlichen ersten Eindruck hinterlassen können. Fans der erwähnten Coheed And Cambria, die auch mal klassischen Retro-Prog und New Artrock goutieren, sollten sich an der basischen, aber kompetenten Underground-Produktion nicht stören und The Cyberiam ruhig einmal antesten. Zu beziehen im Webshop von Just For Kicks.