Schlagwort: Art Rock

The Judas Table

Antimatter sind mittlerweile eine der absolut herausragendsten Bands in den ruhigeren Gefilden des … ja, wie nennt man das denn? Post-Rock, Prog-Rock, Art-Rock, Metal? Etwas von allem, vermutlich. Noch immer stehen fragile, zerbrechliche Melodien im Mittelpunkt, dargeboten von zurückhaltenden akustischen Gitarren und Streichern, die hin und wieder in zornige Metalpassagen ausbrechen. Der Gesang und die Texte von Mick Moss sind immer noch zutiefst persönlich und stehen in Wichtigkeit den zarten Melodien in nichts nach. Man merkt hier und da, dass die Heimat von Antimatter irgendwann einmal Anathema waren, nur dass Antimatter im Gegensatz zum mittlerweile viel zu verkopften Progressive der ehemaligen Kollegen direkt in Herz und Hirn gehen.

„The Judas Table“ ist ein Konzeptalbum über alles, was Menschen anderen Menschen antun können, über Schmerz, Verlust, Demütigung, Intoleranz, Ablehnung; jedes Wort, das ein negatives Verhaltensmuster eines Menschen einem anderen Menschen gegenüber beschreibt, findet seinen Platz in dieser zutiefst traurigen Bestandsaufnahme menschlichen Versagens. Passend dazu ist das Albumcover, das die Abhängigkeiten des Menschen von den emotionalen Verbindungen zu anderen Menschen auf ziemlich direkte Weise darzustellen vermag.

Wenn man dem Album lauscht wirkt es allerdings tatsächlich so, als hätte Mick Moss seine Dämonen ausgetrieben. Die allzu intensive Kontrastierung zwischen aggressiven Ausbrüchen und den selbstzerstörerisch-zerbrechlichen Passagen, die auch noch auf „Fear Of A Unique Identity“ vorherrschte, ist auf „The Judas Table“ sanfter, klarer, logischer. Es wirkt fast, als hätte jemand Mick Moss und seine Musik mit Schleifpapier bearbeitet, um all die Splitter, die den Hörer verletzen könnten, wegzuschmirgeln.

Geblieben ist ein sanftes, ruhiges Album voller akzeptiertem Schmerz. Manche Stücke reizen dadurch ihr Intensitätspotential eindeutig nicht genug aus („Killer“), manche schrammen an der Grenze zur Langeweile entlang („Hole“), andere wiederum sind durch das bloße Weglassen lauterer Parts an Persönlichkeit kaum zu übertreffen – siehe das überragende „Comrades“. Es kann jedem nur ans Herz gelegt werden, dieses Album konzentriert über Kopfhörer in sich aufzunehmen, so gut wie jeder wird sich in den Texten irgendwann irgendwo wiederfinden. Absolut überragen tut „Stillborn Empires“, siebeneinhalb Minuten Schmerz, Intensität und Textzeilen wie

‚Daddy didn’t want you and Mommy gave you pain‘

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Der halbwegs friedliche Waffenstillstand, den Moss hier mit sich und seiner Umgebung geschlossen hat, scheint spätestens beim unfassbar traurigen „Little Piggy“ brüchig. Das Album ist noch nicht einmal erschienen, und man wartet schon darauf, wie sich das wohl weiterentwickeln mag.

Musikalisch mag man Antimatter zurufen, sie mögen doch auch mal etwas von ihrem Weg abwärts abweichen, ausbrechen, etwas machen, das überrascht, denn Antimatter sind Antimatter und sie entwickeln sich in ziemlich eng gesteckten Bahnen. Aufgrund der überragenden songwriterischen und technischen Fähigkeiten verbietet sich ein „ist ja immer dasselbe“ fast von selbst; dennoch ist der Grat sehr schmal. Textlich dagegen geht der Seelenstrip voran, es gibt Entwicklungen, Veränderungen. Dass eine Abfolge von Texten mehrerer Alben über Jahre hinweg beim Hörer dasselbe Interesse zu erwecken vermag wie sonst nur Fernsehserien – das ist wirklich hohe Kunst.

Agent Fresco – Von der Liebe zu nahen Menschen und fernen Städten

Das Kölner Underground ist gefüllt mit einer Mischung von Menschen, wie man sie selten zu sehen bekommt. Dass es an diesem Abend rund um dynamische, progressive Musik geht, spiegelt sich auch in der Menge wider, in der vom Metalhead bis zum Indie-Fan alles vertreten ist. Die Stimmung ist gut, denn der trübe Tag findet in einem milden Abend mit einem Bilderbuchsonnenuntergang einen nur allzu passenden Anklang für die bevorstehenden Stunden.

Destrier

Ihr erst zweites Album haben die isländischen Agent Fresco nach dem besten Turnier- und Schlachtrosstypus benannt, den man sich im Mittelalter so vorstellen konnte: ‚Destrier‘. Und ‚Destrier‘ prescht so wunderbar kraftvoll und anmutig aus seinem Verschlag, dass man sich beim stillen Flehen ertappt, es möge sich nicht im Laufe der zahlreichen Tracks eine Toleranzschwelle bilden. Agent Fresco haben ein Einsehen und tun das Nötige, um es nicht so weit kommen zu lassen. Das Mittel: rund 50 Minuten geballte Emotion, durchdacht portioniert in 14 kleine Gesten großer Kunst. Kurz: ein ganz, ganz edler Gaul.

Die Stimme Arnór Dan Arnarsons, die einzige im Übrigen, die Ólafur Arnalds je an seine Musik heranließ (spätestens hier wird klar, warum), ist das Goldstück der Aufnahme und schultert neben der größten Seelischen Last – Arnarson hatte nach persönlichen Schicksalsschlägen mit Angst- und Wutattacken zu kämpfen – abermals einen Großteil des Wiedererkennungswertes dieser Ausnahmeband. Getragen meist auf einem wallenden Bett aus Gitarren, dann wieder lediglich von filigranen Klaviertröpfeleien dirigiert sie die Songs mitten ins Hörerherz. So gelingt Agent Fresco auch diesmal wieder der Spagat zwischen wuchtig wummernden Soundscapes und filigran perlenden Hochtönen, zwischen ornamentalem Abschweifen und straighten Punchs in die Magengrube. Eine Bandbreite, die sich in der überwältigenden Dynamik der Drums fortsetzt.

In anderthalb Minuten ‚Angst‘ kommt die Schönheit schließlich unter die Räder, prügelt, schreddert und schreit sich die ganze Brigade um allen angefallenen Ballast; alles andere wird gefühlvolle fünf Minuten später – man nannte diese in weiser Voraussicht ‚Death Rattle‘, das Todesrasseln – in ‚Mono No Aware‘ kontrolliert, aber prachtvoll verfeuert. Spätestens bei diesem verschleppten Ausklang wird man sich allerdings der einen oder anderen Länge gewahr. Mit einer kleinen kosmetischen Maßnahme hier und da wäre ‚Destrier‘ womöglich noch eine Spur wendiger, einen Hauch unergründlicher ausgefallen. Doch das ist Meckern auf hohem Niveau. Denn im Grunde kann dieser Ausflug in bessere, befreitere Rockmusikwelten nicht ausgedehnt genug sein.

Zu sehr dehnte sich allerdings bisweilen die Wartezeit in Anbetracht der großen Hoffnungen, die seit ihrem 2010er Debüt auf den Isländern ruhten. In der Bilanz hätte dieses aber auch eine Auszeit doppelter Länge gerechtfertigt. Von den Parallelen zu den mal mehr, mal minder großen dredg mag jeder im Zusammenhang mit dieser Band schon mal gelesen haben – abwegig wird der Vergleich dadurch allerdings nicht. Progressive Art Rock nennt sich das Ganze dann. Eine Bezeichnung, die der musikalischen Situation vor dem Hintergrund der verblüffenden stilistischen Freiheitlichkeit nicht ganz gerecht wird. Ohnehin haben Arnór Dan, Þórarinn Guðnason, Hrafnkell Örn Guðjónsson und Vignir Rafn Hilmarsson vielmehr respektvolles Schweigen verdient. Sie sind ein Fall für Kinn-, nicht für Schubladen.

YES – Freut Euch auf das ultimative Live-Paket

Eine der legendärsten Progressive-Rock-Bands ist sicherlich Yes. Kaum eine andere Band inspiriert auch heute immer noch so viele andere Musiker wie die britische Formation um Chris Squire, der als einziges Gründungsmitglied auch heute noch aktiv am Bass steht. Gerade in den 70ern war Yes stilbildend für das gesamte Genre. Und aus den 70ern stammt jetzt…

ANATHEMA – Wiederveröffentlichung ‚Fine Days 1999 – 2004‘

Anfang der 90er waren die Briten von Anathema eine der reizvollsten Doom-Gothic-Gruppen Europas. Songs aus dieser Schaffensphase werden die Engländer übrigens in wenigen Wochen auf einer kleinen, exklusiven Tour nochmals zum Leben erwecken. Heute sind die Cavanagh-Brüder und die hübsche Engelsstimme Lee Douglas mit ihrem emotionalen Art-Rock erfolgreich, zuletzt präsentiert auf dem bisher kommerziell erfolgreichsten…

Home

Wenn es neben RPWL einen nennenswerte, neuere Progressive Rock Band aus Deutschland gibt, dann sind das Sylvan aus Hamburg. 1991 als Chamäleon in Hamburg gegründet, hat das Quartett seither eine sowohl qualitativ als auch quantitativ beeindruckende Discographie auf die Beine gestellt und einen eigenständigen Stil entwickelt. Drei Jahre nach dem Doppel-Album „Sceneries“ sind die Hanseaten mit ihrem insgesamt neunten Studio-Album zurück. Und das Album mit dem wunderschönen Cover-Artwork weiß durchaus zu begeistern, wenn moderner, stimmungsvoller Artrock die Kategorie der Wahl ist. Als Konzeptalbum thematisiert es – der Titel legt es nahe – die Suche nach Geborgenheit und Heimat einer fiktiven Protagonistin. Diese reist in Gedanken zurück in ihre Kindheit und beginnt so die eigene Gegenwart neu zu bewerten. Angestachelt auf der Suche nach einer hoffnungsvollen Zukunft und dem Finden einer beruhigenden, inneren Heimat durchlebt sie Zweifel und Ängste.

Mit Orchester-Streichern, -bläsern und Klavier eröffnen die Hamburger „Home“ zunächst ruhig wie eine Morgendämmerung und dann zunehmend symphonisch-bombastisch. ‚In Between‘ hat einen dezent-sympathischen Industrial-Rock-Touch, ist aber trotzdem besonders vom narrativen Gesang geprägt, den Frontmann Marco Glühmann mit seiner extrem ausdrucksstarken und vielseitigen Gesangsstimme zelebriert. Die steht auch im Mittelpunkt von ‚With The Eyes Of A Child‘, melancholisch-klagend interagieren die Vocals hier mit dem Klavier. Bei ‚The Sound Of Her World‘ erklingen erstmals verzerrte Gitarrenriffs, die sich nicht dezent unterordnen und schon bald vereinen sich die Stromgitarren einmal mit Klassik-Streichern. Es ist erstaunlich, wie die Hamburger die Kindheit der Protagonistin mit Tönen zum Leben erwecken, wie die Jungs mit der Opulenz einer Rock-Oper spielen, sie aber in ihrer ganz eigenen Art Akt für Akt inszenieren. ‚Shine‘, den Fans vorab als Video präsentiert, setzt auf eine vergleichsweise simple Struktur, besticht dafür aber mit einer radiotauglichen Gänsehaut-Melodie. ‚Point Of No Return‘ stellt an der Eingängigkeits-Schraube einige Windungen zurück, lässt aber Emotionen auf beklemmende Weise aufleben, die bereits vorher auf dem Album gefühlt werden konnten.

„Home“ ist wundervoll geworden und sowohl qualitativ als auch quantitativ mit über 70 Minuten Spieldauer ein echtes Schwergewicht. Der Vergleich mit RPWL liegt nahe und ist neben dem gemeinsamen Label vor allem bei den erzielten Stimmungen gegeben. Sylvan arbeiten jedoch noch mehr mit variablen Keyboard-Klangteppichen und der im gesamten eher zurückhaltenden, sehr angenehmen Stimme Glühmanns, die im entscheidenen Moment aber durchaus als düstere Eruption überzeugen kann. Die Artrock-Produktion atmet jede Menge symphonische Theatralik, aber auch schmeichelnde Pop-Attitüde, deren Kombination der Veröffentlichung hervorragend zu Gesicht steht. So muss anspruchsvoller Artrock mit gefühlvollem Tiefgang klingen.

Mut

<code> haben faszinierenden Black Metal gemacht. Wild, versponnen, stellenweise radikal und krass, abgedreht bis zum maximal möglichen. Gekreische, Gekeife, Gelärm. Sie waren immer schon anders.

Aber so anders als anders als das, was das jetzt ist?

Manchmal gibt es Bands, die von einem zum anderen Album einen so radikalen Stilbruch begehen, dass sie sich genötigt fühlen, den Bandnamen zu ändern, weil man nicht Fans verarschen und neue Hörer mit den alten Werken verprellen will. Nun, wenn man „Mut“, den neuesten Output von <code> hört, dann sollte man sich vorstellen, dass es nicht <code> ist, was man da hört.

Denn einen radikaleren Bruch mit der Vergangenheit gab es selten. Man stelle sich vor, Anathema wären von „Serenades“ direkt zu „Weather Systems“ gewechselt. Das ist in etwa das, was <code> hier machen. Härte? Fehlanzeige. Geshoute? Fehlanzeige. Metal? Nope. Krass abgedrehter Lärm? Ne. Wild? Von wegen. Abgedreht? Nunja, wenn man sich für seichten, melancholischen, leicht progressic-wirren Post Rock interessiert, könnte man <code> als abgedreht bezeichnen.

Keine klaren Strukturen, keine echten „Songs“, Incubus-mäßiges Generve, seichteste Artrock-Passagen, weiches, weinerliches Genöle als Gesang – so stellen sich <code> 2015 dar, und so werden sie Fans von psychedelischem Black Metal-Songs wie „The Cotton Optic“ verprellen. Denn niemand, der die alten <code> schätzt, wird zunächst etwas mit dem seichten Artrock-Gejaule auf „Mut“ etwas anfangen können. „Mut“ ist übrigens ein passender Titel – denn so mutig muß man echt sein – sowohl als Band, als auch als Hörer.
Für das, was es ist – Post Artrock zwischen Pop, Anathema, Katatonia und Muse – ist es nicht wirklich schlecht, die Bandmitglieder beherrschen auch in diesem ihnen bisher vollkommen fremden Genre noch exzellent ihre Instrumente.

Es fehlen für ein wirklich gutes Album aber irgendwie die Ausbrüche, der Knalleffekt; das Album (s)eiert weinerlich vor sich hin ohne Höhepunkt und ohne Dynamik. Es ist schon sehr viel Open Mind bei den ehemaligen Fans der Band nötig, um dieses Album zu akzeptieren.
Freunde verspielten Post Rocks dürfen aber gern zugreifen.

Of Beauty And Rage

Red aus der Country- und CCM-Hochburg Nashville/Tennessee haben vor gut zehn Jahren ihre musikalische Mission begonnen und mit ihren beiden ersten Alben je eine Grammy-Nominierung in der Kategorie „bestes christliches Rockmusik-Album“ erhalten. Damals ließ das gut unter dem Genre-Label „Alternative Metal meets Post-Grunge“ vermarkten. Vor allem in den USA hatte die inzwischen zu einem Trio geschrumpfte Band auch kommerziellen Erfolg als Dreingabe. Das letzte Album „Release The Panic“ erschien vor genau zwei Jahren und war zufriedenstellend, aber kein großer Wurf. Für ihr nun vorliegendes, fünftes Album „Of Beauty And Rage“ haben die drei Jungs nicht nur eine erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne abgeschlossen, über die das Album u.a. auch gemeinsam mit einer umfangreichen Graphic Novel verfügbar ist, in der die drei Helden das Böse bekämpfen. Vor allem haben sich Red mit diesem Album von einer Alternative Band zu einer beeindruckenden New-Prog-Band gemausert. Rückbesinnung auf die Streicherelemente vom Zweitwerk „Innocence & Instinct“, dem wohl bisher besten Album der Band, meisterhaft kombiniert mit anderen bewährten aber auch neuen Elementen ergeben einen weiterentwickelten Red-Sound. Hart haben die Jungs an „Of Beauty And Rage“ gearbeitet und es trifft wieder einmal auch objektiv zu, was beinahe jeder Musiker über sein neuestes Album sagt: Daß es das beste der bisherigen Karriere sei.

Das neue Album handle davon „… im Leiden die Schönheit zu finden“, resümiert Sänger Michael Barnes. „… und an den Härten und Prüfungen, die das Leben ausmachen, zu starken Persönlichkeiten zu reifen.“ Was grundsätzlich nach einer Binsenweisheit klingt, findet sich authentisch in Musik und Texten wieder, auch wenn die Band bei letzteren noch Spiel nach oben hat. Es ist wundervoll, wie sich die beiden Pole „Schönheit und Wut“ einerseits in bombastischen, liebevoll arrangierter Streichermusik und andererseits in derben Screams und Metal-Riffs entdecken lassen. Ohne, daß es aufgesetzt oder bemüht wirkt, sondern wie eine absolut runde Sache.

‚Impostor‘ schafft als Grundlage einen Nu-Metal-Rhythmus, dessen verzerrte Gitarren-Riffs aber beinahe von Beginn an mit Streicher- und Piano-Passagen den „Beauty“ Anteil darstellen. Beim Gesang geht die Bandbreite gar von ruhigen Passagen melancholischen Klargesang bis zu wütenden „Rage“-Metalcore-Screams, bisweilen fließend inneinander über innerhalb eines einzigen Songs. Die Melodielinien beim klaren Gesang erinnern an New-Artrock à la Muse oder Anathema, sind aber noch ein wenig knalliger, was nicht alleine an den härteren Gitarrenriffs liegt. So wie bei ‚Darkest Part‘ oder ‚Of These Chains‘, bei denen Barnes seine sanfte Stimme warme, melodische Wellen zu den Ohrmuscheln seiner Fans aussenden lässt. Kennt noch irgend jemand Morten Harket der norwegischen a-ha? Solange Barnes den gänzlich sanften Gesang mit Streichern und Klavier um die Wette streicheln lässt, erinnert seine Stimme an ihn. Bei ‚Yours Again‘ werden die Streicher von elektronischen Keyboard-Samples aufgelockert, ‚What You Keep Alive‘ spielt mit Taktwechseln und ‚Gravity Lies‘ mit Nu-Metal-Rhythmen.

Trotz der vielen unterschiedlichen Einflüsse ist dieses Album Red. So wie sie sein sollten und wohl schon immer wollten. Red haben ihr bisher bestes Album gemacht, keine Frage. Die einzelnen Elemente harmonieren auf erstaunliches Weise wundervoll und bündeln sich zu einem emotionalen, melodischen, modernen Rock-Album. Nu-Metal-Rhythmen à la Linkin Park, die Pianos von Muse, der Gesang oszilliert beeindruckend zwischen sanfter a-ha-Verbeugungen und Metalscore-Screams. Dazu noch eine Prise Bombast-Symphonic-Metal-Keyboards à la Within Temptation. Fertig! Eine Überraschung des noch jungen Jahres, vor allem nach dem eher bescheidenen Vorgänger.

Nothing Has Changed.

‚Nothing Has Changed.‘ Für sich genommen eine völlige Fehleinschätzung, ruft man sich vor Augen, welche stilistischen Hakenschläge David Bowie über die Jahrzehnte unternommen hat, um sich wiederholt in Vorreiterposition zu manövrieren. Die ultimative Ausstellung zum Künstler, die im V&A-Museum in London ihren Anfang nahm und in diesem Jahr auch in Bowies zeitweiser Heimat Berlin gastierte, legt Zeugnis über sein wahrlich weltbewegendes Wirken ab. Seit seiner geburtstäglichen Rückmeldung Anfang 2013 regnet es wieder Ruhm und die Plattenindustrie lobpreist – nicht ganz uneigennützig – das Schaffen Bowies mit dem Release von Neuauflagen und Werkschauen. Im September noch erschien mit ‚Sound + Vision‘ der letzte fette diskographische Rundumschlag, nun folgt mit ebenjenem ‚Nothing Has Changed.‘ der nächste, vermarktungsstrategisch möglicherweise smartere Twist.

Wo ‚Sound + Vision‘ nichts anderes war als ein verwegener Insider-Spaziergang im muffigen Archiv, mal hier, mal dort auf der Suche nach Fortbildung ins staubige Regal greifend, stellt ‚Nothing Has Changed.‘ die größten Schlaglichter der Diskographie zu Porzellan und Tafelsilber in die beleuchtete, mit Spiegeln ausgekleidete Wonzimmer-Vitrine. Dass sich nun ‚Nothing Has Changed.‘ von seinem ersten und jünsten Track an Schritt für Schritt wohlbedacht weiter in die Vergangenheit vorarbeitet und damit genau gegenläufig vorgeht, ist symptomatisch. ‚Sue (or In A Season Of Crime)‘ heißt jener erste Track, auf dem sich Bowie an der Hand von Maria Schneider und Orchester in die schwierigen Vegetationszonen des Jazz wagt – und so bald nicht mehr dort rauskommt. Saxo-Brassband-Pomp, nervöses Schlagwerk, Irrsinns-Vibrato on top und fertig sind sieben Minuten E-Musik-Hölle. Was man bei anderen Künstlern als Anflug von Größenwahn einstufen und möglicherweise gar geringschätzen würde, schluckt man bei Bowie einfach und staunt.

Von da an geht es mit Brian Eno und Tony Visconti als Wingmen weiter durch ein feudales Greatest-Hits-Spalier, tiefer und tiefer in die Historie, immer mal wieder aufgefüllt bis angereichert von forschen Re- und zurückhaltenden Alternate-Mixen, die in einem geradezu konfusen Pet Shop Boys-Mashup von ‚Hallo Spaceboy‘ gipfeln, dem man sich einfach nicht entziehen kann. Am Ende steht – neben ein paar anderen alten beat-beeinflussten Schätzchen – ‚Liza Jane‘ aus dem Jahre 1964, damals noch aufgenommen als Davie Jones, den Anfang machen Stücke, die jünger sind als die Jahrtausendwende (Stichwort ‚Heathen‘ – ein sträflich unterbewertetes Album!) und bisher von keiner Bowie-Compilation abgedeckt wurden. ‚Sunday‘, aus dessen Bridge ein Vers für den Titel der Sammlung herhielt, zählt gleichwohl nicht dazu. Dazwischen drängen sich erwartungsgemäß die Hits; von Meilensteinen wie ‚Starman‘ – man rufe sich den wegweisenden Top Of The Pops-Auftritt von 1972 in Erinnerung – oder ‚Space Oddity‘, dem Durchbruchs-Song schlechthin, bishin zum neuzeitlichen ‚New Killer Star‘ vom ‚Reality‘-Album bedient ‚Nothing Has Changed.‘ alle Geschmäcker – und fängt sämtliche (auch stimmliche) Wandlungen des Chamäleons ein. Hinzu kommen spannende Raritäten in maßvoller Dosierung, wie etwa ‚Let Me Sleep Beside You‘ und ‚Shadow Man‘, die Teil des nie offiziell veröffentlichten Albums ‚Toy‘ aus dem Jahr 2000 … sind? … waren? … geworden wären? Man weiß es nicht. Was man aber weiß: Die komische blaue ‚Best Of Bowie‘ von 2002 kann weg.

Je nach Hitbedarf und/oder verfügbarem Abspielgerät kann der Hörer zwischen 3CD-, 2CD oder Doppel-Vinyl-Ausgabe wählen. Die volle Ladung bietet die 3-CD-Edition; jede weitere Variante dampft die Auslese weiter ein, sodass spätestens auf den zwei Schallplatten sämtliche Tracks hinlänglich bekannt und beliebt sein dürften. Wann könnte man treffender von der berühmten Crème de la Crème sprechen als im Falle dieser Compilation? Alle Bündel kommen mit verschiedenen Coverartworks gleichbleibender Motivkonstellation: David Bowie blickt in einen Spiegel und nimmt je nach Schaffensphase ein anderes Gesicht, eine andere „Ausgabe“ seiner selbst wahr. Danke, Jonathan Barnbrook, aber mal ehrlich: als bräuchte es dieses Jahr noch mehr Fingerzeige auf das Bowie-Lebenswerk und seine Gewaltigkeit. Schön ist’s aber allemal. Klappt man die Flügel der aufwändig gestalteten Gatefold-Box auf, prangt dort die unumgängliche Richtigstellung – und mit ihr die nächste Zeile von ‚Sunday‘: Everything has changed. Aus nichts wird alles, aus allem nichts. Es scheint, als könne Bowie selbst mit dem Königspaar der Gegensätze ungehindert seine Spielchen spielen.