Schlagwort: Indierock

Elision

Intrasonic kommen aus Berlin, und lokale Helden sind nun einmal Helden. Dennoch muss schon etwas Gutes drin stecken, und bei Intrasonic tut es das.

Die Band schafft es, auf ihrem Debut „Elision“ eine relativ unorthodoxe Variante des groben Überbaus Industrial Rock zu erschaffen. Man drischt nicht auf die Zwölf, übersteuert jedes Instrument und singt über irgendwelchen Schweinkram, sondern wirkt vom ganzen Sound her eher introvertiert, zurückhaltend, nachdenklich. Der männliche Gesang und auch die den Gesang charakterisierenden Melodien klingen fast nach klassischem Grunge Marke Alice In Chains, inklusive den verhallten zweistimmigen Parts. Die häufig auftretende Sängerin wirkt in etwa wie eine Vertreterin klassischen Female-Fronted Gothic Metals.

Die elektronischen Teile der Musik sind sehr verspielt, geben dem ganzen einen minimal hibbeligen Zusatz, der dem leicht leiernden Gesang einen schönen Kontrapunkt gibt. Soundtechnisch erinnert man ein wenig an Killing Joke Anfang der 90er, sehr natürlich, nicht überproduziert, fast warm für ein Genre das sich üblicherweise in Kälte überbietet. Ein wenig Depeche Mode springt sicher in den ruhigen Stücken auch durch die Musik, aber insgesamt ist die Musik und auch die Melodien insbesondere für ein Debut höchst eigenständig.

Öfter werden ganz Berlin-like arabische Elemente eingestreut (im sehr sperrigen „Something I Never Told You…“ und auch im absoluten Highlight des Albums, dem von weiblichem Gesang getragenen „Awakening“) und mit „Adore“ ist eine wunderschöne keyboardgetragene Ballade vorhanden.

Das gesamte Album ist abwechslungsreich, auch wenn die aggressiveren Momente komplett fehlen. Ein sehr schönes, kleines, introvertiertes Stück „echte“ Musik.

WANDA – Neues Video zu ‚Bussi Baby‘

Vergangenes Jahr haben Wanda ihre Fans mit ‚Amore‘ überhäuft und schafften mit ihrem Debütalbum den internationalen Durchbruch. Nur ein Jahr und eine ausgedehnte und nervenaufreibende Tournee später kündigt die Band um Sänger Marco Michael bereits ihr zweites Album ‚Bussi‘ an. Erscheinen wird die neue Platte am 02.10.2015. Bis dahin gibt es als Vorgeschmack den Track…

LOW – Neues Album im September

Und er läuft und er läuft und er läuft, wenn auch mit angezogener Handbremse: der Sound von Low. Hektische Tempowechsel und Highspeed-Attacken sind das Ding der Band aus Duluth, Minnesota nicht. Vielmehr kommt man mit zwei Tempi aus: langsam und noch langsamer, was dem Trio Alan Sparhawk (Gesang, Gitarre), Mimi Parker (Schlagzeug, Gesang) und Steve…

Das Rote Album

Ganz am Ende, noch jenseits des letzten Liedes, hinter einer Barrikade aus Stille geschieht es dann doch: Von Lowtzow wird sentimental. In ‚Date mit Dirk‘, wie das Stück womöglich heißen würde, wäre es auf der Tracklist verzeichnet, trifft er unter Waldquellplätschern, Vogelgezwitscher und Todesfugen-Zitaten auf sein jüngeres, löwenzahnweinseliges Selbst. Ein passgenaueres Biotop als den klassischen Hidden Track hätte er sich kaum aussuchen und unsereins sich kaum vorstellen können. Doch dann der Schrecken – der Moment, in dem das eigene Ich sich zum Albtraum verwächst:

‚Auf seinem Kopf tanzen Schlangen und Plasma wächst aus Dirks Hand.‘

Au weia!

Mit chirurischer Genauigkeit hängt Von Lowtzow Wort an Wort. Man kennt es, man schätzt es. Tocotronic vereinbaren aktuell Liebe mit Politika und traditionsgemäß verwinkeltes Gedankengut mit biederen Reimschemata. Mit wonnigem Gefühl im Bauch begegnet man den Versenden, um mal in seiner Erwartung bestätigt, mal völlig auf dem falschen Fuß erwischt zu werden, wenn Von Lowtzow süffisant jene Begrifflichkeiten prononciert, die er nur und ausschließlich nach einem langen Auswahlverfahren aus den unermesslichen Tiefen seines passiven Wortschatzes geborgen haben kann. Wohin man auch blickt, sieht man vor lauter Sahne die Torte nicht; es regiert für Sie: die tocotronische Hochsprache – reflektiert, exaltiert, zitatwürdig. Das überschwängliche Hofieren jeder einzelnen noch so verschluckungsgefährdeten Silbe ist hierin denkbar schnell erklärt. Tocotronic fühlen sich überlegen; im Denken, im Texten, in Bildern.

Und deshalb werden sie großzügig, erklären ‚Ich Öffne Mich‘ im so betitelten Song, einem breitproduzierten Pop-Protz, der sich einem unverzüglich an den Hals schmeißt und ein für unsingbar gehaltenes Wort wie „gänzlich“ unwiderstehlich weich klopft. An anderer Stelle überspitzen es die Tocos, verteilen ‚Solidarität‘ und treiben einem mit überkandidelten Streichersätzen die Tränen in die Augenwinkel. Because they can.

Schneller als einem eigentlich lieb ist geht das Rote Album in Fleisch und Blut über. Vor die Wahl, ob einen die Platte nun verfolgen soll, wird man gar nicht erst gestellt – man kann sie bereits vorher auswendig – ganz ähnlich wie beim bizarren Zweisamkeitsgefühl im Stück ‚Haft‘ (

‚Ich hafte an dir / Wie die Blicke, die ich spür‘ / Auf den Displays neben mir / Hafte ich an dir‘

). Das ist ja das Fiese an Tocotronic: Ihre Lyrik vereinnahmt, bevor man sie auch nur im Ansatz entlarvt zu haben glaubt. Die wissen genau um ihre Wirkung. Die wissen, dass sie das Unsingbare singbar machen, und gerade das ist es, was ihren Hörer in diese eigenartige Sorte Ohnmacht stürzt.

Hätte die Band nicht selbst die Vorlage gegeben, würde vermutlich heute niemand so lapidar vom ‚Roten Album‘ sprechen. Es wäre zu einfach, zu naheliegend. Zu beliebig mit Rücksicht auf die Akribie, die das Quartett in diesem nur äußerlich monochromen Werk verbaut hat. Oder auch nicht:

‚Ich will keine Treueherzen / Kannst du mir Liebe geben?‘

, fragt der ‚Rebel Boy‘, eine Art vornehmer Punk, und bekennt sich damit der schwächsten Zeilen des Albums schuldig. Am Anfang war da noch der ‚Prolog‘: musikalisch mehr Metronom als ernster Gegner, lyrisch aber herrlich spitzfingrig und scharfkantig. Und dann stemmten Moses Schneider und Markus Ganter die Angelegenheit der Sonne entgegen.

Was bleibt, ist ein vollmundiges Album vom Altern und – manchmal etwas angestrengtem – Jungbleiben, zum Schwelgen und Zitieren, Liebgewinnen und … verdammen. Sobald man es einmal zu oft gehört hat. Aber das sind eben Tocotronic.

Decency

Die 275.000-Einwohner-Stadt Sunderland liegt im Nordosten Englands und ist unter anderem die Partnerstadt von Essen. Dave Stewart von den Eurythmics, The Toy Dolls sowie Field Music und The Futureheads stammen aus dieser Stadt, und auch Roxy Musics Bryan Ferry soll mittlerweile hier leben. Welch gefundenes Fressen für musikhistorisch veranlagte Verschwörungstheoretiker.

Frankie Francis, der später Sänger bei Frankie & The Heartstrings werden sollte, schickte sich zunächst mit seinem Pub an, zumindest ein Grundbedürfnis der zahlreichen Einwohner Sunderlands zu befriedigen. Dort begegneten sich Frankie Francis, Gitarrist Michael McKnight und Schlagzeuger Dave Harper und gründeten daraufhin Frankie & The Heartstrings. Viel später und als Band eröffnete man 2013 im Herzen Sunderlands gar einen Plattenladen, um ein weiteres Grundbedürfnis zu bedienen.

Das Umfeld in Sunderland scheint zu stimmen, wohlgediehen spielen Frankie & The Heartstrings nach Veröffentlichung zweier Singles und einer EP bereits als Support für Florence + The Machine, auf den großen britischen Festivals sowie eigene Shows in Europa, New York und Tokyo. Man spielt Support-Shows für Edwyn Collins und The Futureheads und macht sich auf diese Weise Freunde. So ist es auch Collins, der das Albumdebüt ‚Hunger‘ produzierte.

Mit Hilfe von Gitarrist Ross Millard von den Futureheads und Bassist Michael Matthews erscheint mit ‚Decency‘ nun das dritte Album von Frankie & The Heartstrings. Eine zwölf Songs umfassende Songsammlung, gespickt mit wohlgemeinten Ratschlägen wie ‚Think Yourself Lucky‘ oder ‚Save It For Tonight‘ sowie einer akustischen Liebeserklärung (‚Berlin Calls‘). Werden in der ersten Hälfte des Albums noch sehr rege die (synthetischen) Blechbläser bemüht, lässt man über die ganze Albumlänge aber vielmehr die Gitarren gewähren, die ein kerniges Fundament für die helle, warme Stimme von Frank Francis schaffen.

Die musikalische Rezeptur ist zu ausgebufft, als dass sie mit dem Begriff Indie Rock ausreichend gedeckelt wäre. Dafür sprechen diese unsäglichen, eingangs erwähnten Bläser. Da klingen The Spotnicks oder The Shadows (‚Balconette‘) ebenso durch wie die jugendliche Unbekümmertheit des Rock And Roll bei ‚Easy Life‘. ‚Just Not In Love‘, ein Feel-Good-Hit wie geschaffen für das Radio und die kraftvolle Ballade ‚Hate Me Like You Used To‘ runden den Stimmungsbogen ab. Unversehens kommt man auf ‚Decency‘ doch auf so einige Hits, die dem Hörer den verdienten frischen Soundtrack für den heißen Sommer bescheren.

Vieux Loup

The Acorn ist die Band des Kanadiers Rolf Klausener. Zunächst gestartet als Ein-Mann-Projekt stießen Schlagzeuger Jeffrey Malecki, Gitarrist Jeff Debutte, Percussionist Pat Johnson und Bassist Steven Lappano hinzu. Über die Alben entwickelte sich der Sound, vom nahezu instrumentalen Debüt ‚The Pink Ghosts‘ über das biographisch geprägte Konzeptalbum ‚Glory, Hope, Mountain‘ und den dritten Streich, das 2010 erschienene ‚No Ghost‘, mit seinen robust rumpelnden, aber auch versonnen mäandernden Songs. Unterwegs war man bis dahin unter anderem mit Bon Iver und Elbow oder auch in eigener Sache. Nachdem man sich in der Folge recht rar machte, etwa weil Klausner zwischendurch mit seinem neuen Elektronik/Dance-Projekt Silkken Laumann letztes Jahr ein Album veröffentlichte, sind nun endlich wieder The Acorn mit der neuen, vierten Songsammlung ‚Vieux Loup‘ am Zug, das auf sehr harmonische Weise akustische Instrumente und Elektronik zusammenbringt.

Im direkten Vergleich zu Silkken Laumann und deren durchnittlichen 120BpM gerinnt der Opener ‚Rapids‘ förmlich zu einem akustischen Stillleben, zu einem auf das Allerwesentlichste reduzierten Folksong, somnambul und unaufhaltsam mit der gefühlten Geschwindigkeit eines Gletschers. Unweigerlich fällt ein nicht immer nur sparsamer Einsatz elektronischer Effekte auf, der sich fortan fast durch das gesamte Album zieht – inspiriert durch den Exkurs in die elektronische Tanzmusik? ‚Palm Springs‘ erhöht dann gleich dramatisch die Geschwindigkeit, stellt mit seinen Gitarrenfeedbacks und Halleffekten, vor allem aber mit dem tollen, mehrstimmigen Gesang, einen potentiellen Hit dar. ‚Influence‘ ist ähnlich beschaffen, mit deutlicherem elektronischen Beiwerk, einem dunkel grummelnden Keyboardbass und technoiden Synthies. ‚Dominion‘ ist dagegen ein geradezu puristischer Folkrock-Song. ‚In Silence‘ macht seinem Titel eigentlich alle Ehre, sehr ruhig und heimelig in ruhigem Fluss scheppert dann aber jäh das Schlagzeug los, als gelte es, einen Bären aus dem Cottage zu vertreiben.

The Acorn, ‚Vieux Loup‘, acht Stücke, ein Taumel durch wohlige Gemütszustände, stimmungsvolle Momentaufnahmen (‚I Didn’t Have All The Answers For What Went Right‘, Song ‚Artefact‘) inklusive. Nein, der alte Wolf ist nicht zahnlos, nur weniger energisch.

ARKELLS auf Deutschlandtour im November

Nach der Tour im Mai mit ausverkauften Shows in Berlin, Hamburg und Stuttgart kommen die Arkells im November erneut nach Deutschland. Neben Shows in Hannover, Heidelberg und Köln, gibt es am 7.11. eine besondere Late Night Show im Rahmen der Visions-Party in Berlin. Eine weitere Deutschlandshow ist außerdem in Vorbereitung. Der VVK startet am Mittwoch,…

FFS

Bis es zur Umsetzung dieser kühnen Kooperation zwischen Franz Ferdinand und Sparks kommen konnte, verging nahezu ein ganzes Jahrzehnt. Denn Franz Ferdinand und Sparks hatten sich bereits vor langen Jahren geschworen „mal was gemeinsam zu machen“. Doch der steile Aufstieg der britischen Band und ein damit einhergehender sehr eng gestrickter Zeitplan verhinderten die Ausführung dieser Idee. So musste der Frontmann von Franz Ferdinand, Alex Kapranos, zunächst Zahnschmerzen erleiden bevor es zu dieser Kooperation kommen konnte. Denn auf der Suche nach einem Zahnarzt in Los Angeles lief Kapranos in die Arme der Mael-Brüder und das Projekt geriet ins Rollen.

‚Piss Off‘, ein mehr als würdiger Rausschmeißer, war bereits in den 00er-Jahren entstanden und gehörte zu den ersten Stücken, die Sparks ihren neuen Bandkollegen nach Schottland schickten. Franz Ferdinand verstanden das Spiel, bewiesen Humor und feuerten zurück mit ‚Collaborations Don’t Work‘, das man als Kernstück der Platte bezeichnen könnte. In nahezu sieben Minuten wird besungen, wie unerfreulich doch Kooperationen seien und der Arbeitsprozess alleine wesentlich effektiver zu bewältigen sei. Diese Ironie! Denn die Mischung aus den Band-typischen Sound-Szenarien beider Beteiligten stellt eine gelungene Symbiose dar.

Die Sparks kitzeln aus Franz Ferdinand lange vergessene, gute Momente, die sie damals noch auf ihren beiden ersten Alben bewiesen. Als die Indie-Kids noch zu ‚Take Me Out‘ tanzten und sich zu ‚You could have it so much better‘ in den Armen lagen. Während der Opener ‚Johnny Delusional‘ ein waschechter FFS-Songs ist mit klaren von Sparks vorgegebenen Untermalungen und dem eingängigen Refrain – Alex Kapranos wehrt sich vehement gegen das Auseinanderpfriemeln der Songs, um die Merkmale beider Bands herauszufiltern -, könnte der darauf folgende Song ‚Call Girl‘ komplett aus der Feder der Schotten stammen. Doch die Sparks verleihen dem Track die nötige Würze, sodass er 2015 wunderbar funktioniert. Und das obwohl oder eben weil Ron und Russel Mael seit 40 Jahren im Musikgeschäft mitmischen und Kapranos bereits als Kind, weit entfernt von der erfolgreichen Musiker-Karriere, ‚Kimono My House‘ liebte.

Doch die leise Vermutung, dass Sparks die doch jüngeren Franz-Ferdinand-Mitglieder im Studio an der Hand nahmen, bestätigt sich nicht – die Supergroup erzählt in Interviews von größtmöglicher Harmonie, gegenseitiger Bewunderung und Verständnis. Fast schon zu schön, um wahr zu sein.

Get To Heaven

‚So you think there’s no meaning, in anything that we do? / Maybe it’s the silence / Maybe it’s the war / Try to understand it / Try your best to understand the world‘

‚To The Blade‘

Schweigen oder Schimpfen. Zusehen oder Handeln. Mitlaufen oder gegen den Strom Schwimmen. Irgendwie Verstehen. Es gibt immer mehrere Möglichkeiten. Auch in Hinblick auf das, was um einen herum passiert. Meist jedoch ermüdet die große hochtreibende Kritik an der Welt die sensible Musikwelt und das Publikum; zu abgedroschen klingt es, wenn über Krieg und Frieden gesungen wird. Wenn eine Band ab und zu doch über Themen abseits vom Liebeskummer und der Selbstfindung stolpert, muss das Argusauge einen Blick darauf werfen.

Dass auch Everything Everything lieber schimpfen als schweigen, machen sie mit ihrem neuen Album ‚Get To Heaven‘ mehr als deutlich. Sie zeigen keine Scheu zu verstehen, was unergründlich scheint und schwingen sich auf den schnellen Zug mit Endstation Gesellschaftskritik. Ihre neue LP verpasst dem Themenkosmos des Indie-Rocks einen frischen Anstrich aus Wut und Energie. Auf dem Weg zum Spektakel prescht das Quartett nach vorn.

Everything Everything überladen ihr drittes Werk mit Bedeutungsschwere und musikalischer Raffinesse. ‚To The Blade‘ läutet mit aller Heftigkeit den Grundton des Albums durch einen lauten energiegeladenen Schrei Jonathan Higgs ein, getrieben von einer Unruhe, die tiefe Elektrosounds und seine Stimme in allen Höhen und Tiefen auf die Spitze begleiten. Doch anstatt sich lediglich auf Gebrüll und Gezeter aus wummernden Sounds und schwerverdaulichen Beats zu verlassen, versuchen es Everything Everything dieses Mal um einiges poppiger. Bewegt eure Beine zur Gesellschaftskritik! Schaut und hört, zu was ihr hin und her wippt. Die vier schaffen eine wunderbare Gegenüberstellung von zwei grundsätzlich widersprüchlichen Dingen, der Unbeschwertheit und der tiefen Sorge. Musik und Text sind dabei Everything Everythings Oxymoron. Zu lässigem Sprechgesang und neu aufgelegtem R’n’B-Sound wie auf ‚Distant Past‘ schwingt die Hüfte zur Wut über traditionelle Denke, dann findet man sich beim Mitsingen zur IS-Kritik wider (‚Regret Regret‘). Beim Titeltrack ‚Get To Heaven‘, dessen Retromelodie locker zur neuen Sommerhymne werden könnte, tanzt man den Boogie zur Selbstzerstörung. Während Sänger Jonathan Higgs also in altbekannter Falsettmanier fröhlich mit Begleitchor trällert, versinkt die Welt um ihn im Chaos:

‚There’s an old man laying down in the flames / Tonight / Smiling to me / And he whistles as they’re sweeping him up / Alright‘.

‚It’s alright to feel / Like a fat child / In a pushchair / Old enough to run / Old enough to fire a gun‘

(‚No Reptiles‘). Everything Everything wettern in jeder Hinsicht gegen die Mitläuferkultur und gegen jede Form von Passivität. Mit ‚Get To Heaven‘ sind sie selbst so aktiv, dass man manchmal kaum noch hinterherkommt, was denn nun gerade am Pranger steht. Ob nun der gefährliche Aufstieg der Ukip-Partei, Konsumgesellschaft oder der Terrorismus im Nahen Osten, alles findet einen Kanal auf ‚Get To Heaven‘. Das Quartett treibt seine Wut und Angst an, füttert sie mit dunklen elektronischen Klängen und futuristischer Zukunftsmelodie. Diese Attacke spiegelt sich nicht nur in den Texten, sondern auch der Musik. Ekstatisch wummert der elektronische Teppich, beschwörendes Summen hypnotisiert, zwischendrin bauen sie kleine wilde Gitarrensoli ein (‚Spring / Sun / Winter / Dread‘). Die leichtfüßige Pop-Attitüde verliert dabei gerade zum Ende des Albums ein wenig an Fahrt und tauscht den Platz mit dunkler, aggressiver Atmosphäre und bedrohlichen Bläsern (‚Fortune 500‘). ‚Get To Heaven‘ gehört damit wahrlich nicht zur leicht konsumierten Kost. Ruhepausen sucht man zwischen den elf energischen Tracks vergebens.

Everything Everything piksen mit ihrem dritten Album den Menschen in den zu dick gewordenen Bauch und schlagen gegen ihre Köpfe. Leisten können sie sich das allemal, denn ‚Get To Heaven‘ trifft genau den richtigen Nerv und ist in keiner Weise nur plakativ. Zynismus paart sich mit Ironie, Ernst mit lockeren Ratschlägen. Während andere ihre Verblüffung eher heucheln, greift das Quartett energisch an. Ihr Zeigefinger erhebt sich und streckt sich noch um einiges höher als bei ‚Man Alive‘ oder ‚Arc‘. Denn ‚Get To Heaven‘ begleitet ein fettes Ausrufezeichen. Ein Angriff, der noch lange nachhallt, das Gehirn anschmeißt und Everything Everythings Können nachdrücklich unter Beweis stellt.

How Big, How Blue, How Beautiful

Neu ist immer besser. Nicht nur Barney Stinson aus der US-Serie ‚How I Met Your Mother‘ hat uns dies gelehrt. Auch das Leben tut es. So hat Florence Welch in den letzten Jahren das für sie neue ganz normale Leben kennenlernen dürfen. Nach ihrer letzten Tour hieß es dann weg von ihrem Konzertalltag, weg von Rummel und Trubel, weg von Hotel Mama. In ihren Worten erlebte die 28-Jährige „eine ziemliche Bruchlandung“, die sie anscheinend geerdet hat. Genau diese bodenständigeren Klänge sollten sich auf ‚How Big, How Blue, How Beautiful‘ übertragen.

‚How Big‘ sich diese Veränderungen im Nachhinein auf ihre Musik ausgewirkt haben, ist gleich in ‚Ship To Wreck‘ zu hören: Der Opener lässt wichtige Elemente der Vorgängeralben wie Harfe, Synthie-Orgel und Akkordeon vermissen und präsentiert stattdessen leider ganz gewöhnlichen, launigen Poprock à la Amy McDonald, der sich nur dank Welchs phänomenaler Stimme vom restlichen Mainstreamrock abhebt. Aber wie auch das Leben zeigt diese Platte viele Gesichter und Facetten. Der beste Song ‚How Big, How Blue, How Beautiful‘, welcher auch als erster im Kasten war, bietet die gleiche melodische Euphorie von früher, gepaart mit straighten pushenden Drums und schier endlosen Harmonien, die durch ein monumentales, einfach nur fettes Bläseroutro ihre volle Entfaltung erhalten. Hinzu kommen noch ‚Caught‘, ein altmodischer Wohlfühl-Song mit gemütlichen Beat, oder der Schlusstrack ‚Mother‘, der als bluesig-psychedelischer Trip an den berauschenden Rock der späten 1960er Jahre im Stile von Jefferson Airplane erinnert.

Das ‚How Blue’ spiegelt sich in ihrer neuen Schreibweise für melancholische Texte wieder. Früher gab es sphärisch leichte Fantasiewelten, mit Natur-, Wasser- und Dämonenmetaphern gefüllt, die den Tod als „Weg zur Transzendenz“ thematisierten. Diesmal lassen Florence And The Machine das elfen- und märchenhafte bei Seite und Folgen einem anderen, greifbareren Blues – der Realitätsbezug spiegelt sich in Form von Liebeskummer wieder. Im Album geht es darum, wie man Liebe finden kann, sich verliebt, wieder trennt und lernt, damit umzugehen. Letzteres zeigt ‚What Kind Of Man’, das eine neue, trotzige Art von Stärke präsentiert. Dennoch haben das befreiende ‚Delilah‘ oder die wunderschöne, im Raum schwebende Ballade ‚St. Jude‘, die den Zuhörer in andere Welten tragen, große Ähnlichkeit zur alten Florence.

Stellt sich nur noch die Frage, ‚How Beautiful‘ die neuen Florence And The Machine sind. Nicht jeder Track ist gelungen, beziehungsweise entfaltet Wirkung. Beim wiederholten Hören prägen sich die Songs dann aber stärker ein und werden tatsächlich von Mal zu Mal besser. Das Album haut zwar nicht so vom Hocker wie ‚Lungs‘, ist aber abwechslungsreicher als ‚Ceremonials‘. Das Positive ist, dass die einmalige Stimme dieser Frau scheinbar für jede Art von Musik geschaffen ist. Egal ob luftig, kraftvoll, zart. Das ganze in jeder Lautstärke und Emotion. Damit könnte Florence Welch sogar den letzten musikalischen Dreck gut klingen lassen. Das Negative: Auch wenn die Erkundung neuer Stile vollkommen legitim ist und oft zu Unrecht von Fans verschmäht wird, vermisst man hier in der Musik doch die romantische Naturverbundenheit mit seinen sphärischen Klangteppichen. Vielleicht muss man einfach nur – genauso wie Florence Welch – vom alten Fantasiebild loslassen und der Realität im Hier und Jetzt ins Auge blicken. Immerhin für die offene Zukunft darf der märchenhafte Traum weiter existieren.