Schon lange kennen die Ärzte Phantomschmerzen, wenn beispielsweise ein Amputierter Schmerzen in einem nicht mehr existierenden Körperteil verspürt. In unserem technisierten Zeitalter hat sich jetzt auch der Begriff „Phantomvibrationen“ etabliert – man hört sein Handy summen und vibrieren, aber auch dies ist nur eingebildet. „Phantom Vibrations“ (Noisolution) ist der nicht eingebildete Titel des ganz und…
Wenn vier besonders kreative Menschen aufeinander treffen und gemeinsam musizieren, eine erfolgreiche EP veröffentlichen und unzählige Festivals bespielt haben, darf man auf da Longplay-Debüt gespannt sein. Public Display Of Affection (P.D.O.A.) nennt sich das Quartett aus Berlin, und „I Still Care“ (Eigenvertrieb) heißt das erste Album, das Ende September 2022 das Licht der Händlerregale erblickt.…
Es ist das vierte Studioalbum innerhalb von vier Jahren Bandgeschichte. „Earthbound“ (Jansen Records) heißt der neue Output des norwegischen Trios Kanaan, das für alle Stoner- und Jazzheads mit unterschwelligem Hang zum psychedelischen Freejazz oder Fuzzgefrickel interessant sein dürfte. Die drei Musiker aus Oslo zaubern ganz klassisch mit Gitarre, Bass und Schlagzeug ein rein instrumentales Album aus dem Ärmel, das geschickt musikalisches Know-How und Spielfreudigkeit mit schwerem, teils improvisiert wirkenden Rock kombiniert. Gewichtige Bassläufe im Motorpsycho-Stil, wabernde, spacige Sounds im Hawkwind-Gewand, stampfende Stoner-Attitüde und einige nette Gitarrensoli erfreuen das psychedelische Herz.
Man merkt, dass die drei Bandmitglieder viel Erfahrung haben. In Norwegen sind sie Mitglieder diverser anderer Bands wie Mall Girl, Juno und Vegard & Ivar. Auf „Earthbound“ entwickeln sie ihren aus den Vorgängeralben bekannten eher jazzigen Stil konsequent weiter und steigen hinab in tiefe und ziemlich heavy daherkommende Krautrock- und Stoner-Gefilde. Nach einem Prelude geht es mit dem knarzenden ‚Return To The Tundrasphere‘ gleich in die Vollen. Manchmal fragt man sich, ob die Wirkung der Musik mit Gesang und düster-aggressiven Vocals vielleicht noch besser gewesen wäre, aber sei’s drum, auch instrumental überzeugen die Skandinavier und beschwören eben auch ohne Text stimmungsvolle, durch die Wolken wälzende Bilder im Kopf herauf.
Das ruhige ‚Mirage‘ lässt den Hörer Zeit zum Durchatmen, der Longtrack ‚Mudbound‘ verliert sich manchmal ein wenig auf der holperigen Wegstrecke. ‚No Star Left Unturned‘ beendet das Album mit einer Wand aus Noise. Wahrlich, die Sterne werden auf dieser Platte umgedreht, herumgewirbelt und neu angeordnet. „Earthbound“ ist ein treibendes, hin und wieder etwas sperriges Album geworden, das ein paar Durchgänge im Player benötigt, um den Hörer ganz einzufangen, aber wer Kanaan diese Chance einräumt, findet das Gelobte Land des Stoner-Psych-Jazz-Rocks, in dem zwar keine Milch und Honig, aber Gitarren, Bässe und Drums fließen.
Acid Moon and the Pregnant Sun -ein ungewöhnlicher Bandname für eine ungewöhnliche Band. Dahinter stehen acht Musiker aus Israel, die mit „Speakin‘ Of The Devil“ (Soulfood / Noisolution) ihr Debütalbum vorlegen. Das Ehepaar Eden Leiberman und Aviran Haviv, das die Band gegründet hat, ist allerdings schon lange fester Bestandteil der Musikszene in Tel Aviv und in diversen Bands aktiv, so zum Beispiel bei den Stonerrockern von The Great Machine.
Auf „Speakin‘ Of The Devil“ geht es dem Bandnamen entsprechend ziemlich psychedelisch zu, aber es sind auch viele Anleihen beim Garagenrock, Folk und Classic Rock zu finden. Passend zur psychedelischen Grundausrichtung werden in sieben Tracks die klassischen Themen Freiheit, Liebe und Sex und Drugs und Rock’n’Roll heraufbeschworen. Dabei schwebt über allem stets greifbar der Geist von Woodstock. Ja, das ist moderne Hippie-Musik aber nicht nur darauf beschränkt. Im Song ‚Creatures Of The Abyss‘ sind nicht nur groovende Tribal-Percussions enthalten, sondern auch ein jazziger Mittelteil, der sich vor dem Standard ‚Take Five‘ verbeugt. Dezente elektronische Effekte setzen immer wieder Akzente, dazu kommen bis zur Unverständlichkeit durch die Effektprozessoren veränderte Vocals in einem Arrangement irgendwo zwischen Jazz, Gong und Frank Zappa. Viel psychedelischer kann es eigentlich gar nicht werden.
Darum wird auch der Classic Rock bedient in Nummern wie ‚Save Me‘, wo die Rolling Stones auf Jefferson Airplane treffen. In den langsameren Momenten wie bei ‚Bright Sky At Night‘ und ‚Sparrow‘ erinnert die Gesangsstimme in ihrer öligen, leicht nasalen Art oft an Bob Dylan. Mit dieser wunderbaren Mischung haben Acid Moon and the Pregnant Sun (wir müssen an dieser Stelle noch einmal betonen, wie cool der Bandname ist!) mit „Speakin‘ Of The Devil“ eins der spacigsten, psychedelischsten Alben des Jahres aufgenommen, das trotzt der „abgehobenen“ Parts auch Classic Rock Fans abholt und durch die Bank weg begeistern kann.
„Soundless Voice“ (Triptonus Records / Noisolution) der österreichischen Formation Triptonus segelt unter falscher Flagge – wäre für die rein instrumentale Mischung aus Pychedelic Rock, Metal, Jazz und Weltmusik doch eigentlich eher die Bezeichnung „Voiceless Sound“ angebracht. Aber sei’s drum, der Bandname ist durchaus passend. Einen Tritonus wird hoffentlich niemand nach dem Genuß der Musik bekommen, aber auf einen Trip nehmen uns die sechs Musiker/innen auf jeden Fall mit.
Das Werk wurde bereits im Jahre 2019 aufgenommen, aber ein paar Probleme und die fehlende Aussicht auf Livegigs haben die Veröffentlichung bis heute verzögern. Jetzt ist es zum Glück endlich soweit, denn schon der erste Track ‚Ikaros‘ entführt in wohlige Gefilde, wo groovende Rockgitarren, ausgefeilte Rhythmen und verschachtelte Songstrukturen aufeinander treffen und den Hörer zu einer faszinierenden, fast schon progressiven Reise einladen. Dabei überraschen die Arrangements und beweisen den Mut zu Außergewöhnlichem und die oben erwähnte Nähe zu Weltmusik und Folk. Mal sind es das Hackbrett, dann die Djembe Trommel, dezente, experimentelle Streicher oder ein Didgeridoo, die stets interessante Akzente setzen und der Musik trotz fehlendem Gesang zu spannenden Aussagen verhelfen. Oft geht es ziemlich progressiv zu, und mehr als einmal fühlt man sich an die Post-Rock-Frickeleien von Bands wie Long Distance Calling erinnert. Orientaler Flair wie im Track ‚B’har‘ verschmilzt mit präzisen Gitarrenwänden, treibend, massiv und doch brüchig. Erst ganz am Ende geht dem Album ein klein wenig die Puste aus, aber das spielt nach acht episch-vertrakten Meisterwerken eigentlich kaum noch eine Rolle.
Triptonus begeben sich mit „Soundless Voice“ wahrlich auf einen Trip, der absolut wiederholt werden muss. Also den Repeatknopf gedrückt und ab dafür! Nach diesem Album muss man die Österreicher definitiv auf dem Schirm haben.
Ist Teddymett eigentlich vegan? Die titelgebende Prinzessin heißt gar nicht Teddymett, sondern Ausbau, und sie hat eine argwöhnische Ornithologie. Wer jetzt nur „Bahnhof“ versteht, den klärt das Hören der zweiten Platte „Prinzessin Teddymett“ (Noisolution) der Berliner Formation Tschaika 21/16 vermutlich auch nur bedingt weiter, Licht ins Dunkel zu bringen.
Mit Songs wie ‚Mutti ist vom Klettergerüst gefallen‘, ‚GoTTdzillas Allzweckwaffe‘ oder besagtem ‚Prinzessin Ausbau’s argwöhnische Ornithologie‘ gewinnt die Band auf jeden Fall schon einmal den Preis für die innovativsten (oder bescheuertsten?) Songtitel des Jahres 2021. Diese Titel werden allerdings in ein überraschend komplexes musikalisches Korsett gezwängt, dass weitab vom spaßigen Punkrock liegt, den man beim Albumtitel und -cover vielleicht hier erwarten möchte. Komplexe Rhythmen aus dem Underground, Jazz, Rock, Stoner, Alternative, brachiale Gitarren direkt vom Black Metal geschickt, schepperndes Schlagzeug und dazu immer wieder Trompeten und ein Quietscheentchen. Das klingt abgedreht – ist es auch, aber trotz allem überraschend anspruchsvoll. Progressive Parts treffen auf krachende Grooves, und das alles fügt sich zu einer spannenden Mischung, die Stoner, Jazzer, Metaller und Progheads begeistern dürfte – wenn sie denn Sinn für absurden Humor besitzen.
Zwischen den Songs gibt es kurze Ausschnitte aus dem Studio zu hören, mehr oder weniger sinnfreies Gelaber vom Hofe der mettigen Prinzessin, das nicht unbedingt nötig gewesen wäre, aber auch nicht allzu sehr stört. Verantwortlich für diese musikalische Gratwanderung zwischen Genie und Wahnsinn ist zu einem Drittel der Gitarrist Tim Mentzel, bekannt durch die Berliner Stoner-Band Rotor. Gemeinsam mit Schlagzeuger „Onkel“ und dem Trompeter Sören, der ansonsten im Orchester des Berliner Konzerthauses tätig ist, erschafft der Musiker ein Album, das nun wirklich mal von vorne bis hinten außergewöhnlich ist. Wird es jedem gefallen? Ganz sicher nicht. Aber eine Chance geben sollte man der Prinzessin auf alle Fälle.
Wenn eine Band ihr Album „Prinzessin Teddymett“ nennt, hat sie schon mal unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. Die Musik von Tschaika 21/16 klingt genauso merkwürdig wie der Bandname. Der zweite Longplayer der drei Musiker erscheint am 28. Mai vbeim Underground-Label Noisolution. Der Wahnsinn des Debut-Albums wird auf der neuen Platte zum Kinderlied reduziert. Rhythmisch noch komplexer, im…
Motorpsycho setzen mit „The All Is One“ (Stickman Records) ihre lose zusammenhängende inoffizielle Gullvåg Trilogie fort, die 2017 mit „The Tower“ begonnen und letztes Jahr mit „The Crucible“ fortgesetzt wurde. Der namensgebende Künstler Håkon Gullvåg war auch jetzt wieder für das Covermotiv zuständig und steuerte zudem weiteres Artwork für die Discs des Doppelalbums und den Innendruck des Digipaks bei.
Die Norweger haben bei ihren Fans einen gewissen Kultstatus erworben, und nach „The All Is One“ kann man auch gut verstehen, warum das so ist, sollte es bisher da noch irgendwelche Unklarheiten gegeben haben. Motorpsycho sind zurück und machen ihrem Namen wieder alle Ehre. Der eröffnende Titelsong ist wegweisend mit seinem psychedelischen Groove, und doch bereitet er die Hörer kaum vor auf das, was noch kommt. Experimenteller Prog mit Jazzrockelementen trifft auf Psychedelic- und Stoner-Rock, Gitarrenwände werden von wabernden Elektrosounds durchbrochen, Saxophone gleiten irgendwo hoch über pulsierenden Mellotron-Sounds.
Zentralstück des Doppelalbums ist das insgesamt über 42 Minuten lange Stück ‚N.O.X.‘, das in fünf Parts und über zwei CD-Hälften aufgeteilt ist und gar sperrig daherkommt. Jazzige Saxophone, pochende Elektrobeats, düstere Streicher, lässige Bläsersätze. Es darf auch mal minutenlang repetitive Rhythmuskontrukte geben, sich langsam steigernde, pulsierende Synthiefiguren, die von diffus schwebenden Vocals zersetzt und schließlich von treibenden Beats überholt werden. Das ist Prog im feinsten Gewand mit langen instrumentalen Abschnitten, die Musik ist vollkommen unvorhersehbar, sperrig, jazzig, überraschend, ekstatisch, belebend, ja sogar tanzbar.
Rund um ‚N.O.X.‘ herum warten acht weitere Songs auf ihre Entdeckung, kürzer, handlicher, aber nicht weniger spannend, auch wenn sie nicht durchgängig das hohe Niveau des überragenden Longtracks halten können. „The All Is One“ ist ein spannendes Album für alle, die für experimentelle Musik aufgeschlossen sind, sich auf lange Tracks einlassen können (und welcher Progger kann das bitteschön nicht?) und für alle, die psychedelischen Stoner-Jazz der außergewöhnlichen Art abfeiern wollen.
Auch wenn dem Genre gerne eine Stagnation vorgeworfen wird, gibt es im Progressive Rock immer noch viele spannende Ecken auszuloten. Thank You Scientist aus New Jersey haben auf ihren bisherigen beiden Alben launig und spannend Jazz, Prog, Funk, Pop und Rock verschwurbelt, so dass man sehr gespannt sein durfte auf das dritte Werk, welches jetzt unter dem Titel „Terraformer“ gleich als 84-minütiges Doppelalbum in den Regalen der Händler steht.
Auch auf „Terraformer“ basteln die sieben Amerikaner wieder poppige Vocals, teils richtig swinglastige Bläserparts, groovende Rhythmen und knackige Gitarrenriffs zusammen, das alles durchsetzt mit schrägem Humor. Das Ergebnis: Eine interessante Mischung, die tatsächlich eine gewisse Alleinstellung der Band in das Genre bringt, einen eigenen, wiedererkennbaren Sound. Das geht schon mit einem kurzen instrumentalen Appetitanreger namens ‚Wrinkle‘ los, und die folgende Nummer ‚FXMLDR‘ ist dann gleich mal eine 8-minütige Zusammenfassung von all dem, was Thank You Scientist oder auch kurz TYS ausmacht. Ob sich Gründungsmitglied Tom Monda an der Gitarre mit dem Violonisten Ben Karras musikalisch duellieren oder Sam Greenfield ein packendes Solo am Saxophon abliefert, das alles weckt Assoziationen an aktuelle Prog-Spezialisten wie Knifeworld oder die aktuellen Aufnahmen von Gong. Später wird es dann funkig, und immer wieder überzeugen insbesonders neben den Bläserparts auch die vielen wunderbaren Gitarrensoli.
Abwechslung wurde im Prog ja schon immer groß geschrieben, so auch hier. Bei ‚Birdwatching‘ gibt es darum zwischendurch coole elektrische Rhythmen, und mit ‚Everyday Ghosts‘ folgt ein weiteres Highlight direkt im Anschluß, das immer wieder geschickt alle Brücken zwischen Jazz, Fusion, Artrock und sogar Metal überwindet. Experimentell wird es auch immer wieder gerne einmal, unterm Strich überwiegen aber die schönen Melodien und klassischen Harmonien über technischem Gefrickel.
Der Titelsong ganz am Ende legt in Punkto Härte noch einmal etwas zu und groovt sich schwerlastig durch seine gut acht Minuten Laufzeit. „Terraformer“ ist natürlich hervorragend produziert und abgemischt, gerade bei der Vielzahl der oft gleichzeitig zu hörenden Instrumente eine wichtige Anforderung an ein solch komplexes Album. Die Scheibe erscheint beim Label „Evil Ink“, einem Projekt des Coheed And Cambria Frontmannes Claudio Sanchez. Herausgekommen ist eine der besten Progressive-Rock-Scheiben dieses Sommers. Dafür sagen wir: Thank You, Thank You Scientist!
„Radio Days“ ist ein
vierteiliges Archiv-Projekt, das jeweils auf Doppel-CDs diverse
Aufnahmen versammelt, die Manfred Mann in der Frühphase seiner
Karriere für die BBC gemacht hat – plus ein paar weitere
Ausgrabungen. Nun ist ja die BBC bekannt dafür, große Teile ihres
Musik- und TV-Archivs in den 1960ern gelöscht zu haben, und Manfred
Manns Workhouse-Studiokomplex brannte bekanntlich in den 1980ern ab
und zerstörte sein bis dahin akribisch gesammeltes musikalisches
Gesamtwerk. So ist die schiere Existenz der hier vorliegenden
Aufnahmen ein wahres Wunder, das Fans des Südafrikaners mit
Sicherheit begeistern wird.
Die erste Doppel-CD behandelt „The
Paul Jones Era“. Wer den Art- und Progressive-Rock der Earth
Band im Ohr hat, wird sich einigermaßen wundern, dass Manfred Manns
Karriere eigentlich als Teil des British Blues Boom der 1960er mit
ziemlich knackigem Rhythm’n’Blues begonnen hat. Ein gewisser Bruce
Springsteen war beispielsweise ein großer Fan von vor allem
Sänger/Harmonika-Spieler Paul Jones und coverte in seiner Frühphase
oft und gerne das durch Manfred Mann bekannte ‚Pretty Flamingo‘. Mann
bedankte sich später dadurch, dass er mit der Earth Band mehrere
frühe Springsteen-Songs coverte und höher in den Charts platzierte
als der Boss die Originalfassungen. Schon in der ersten Phase seiner
Karriere nahm Mann viele Coversongs auf – er selbst sah sich nicht
als Songschreiber, sondern als Musiker und Arrangeur. So finden sich
auch einige im Vergleich zu späteren Aufnahmen relativ nah an den
Originalen bleibende Mann-fizierte Stücke wie ‚I Put A Spell On
You‘, ‚Still I’m Sad‘, ‚Oh No Not My Baby‘ oder Herbie Hancocks
Jazz-Standard ‚Watermelon Man‘. Letzteres zeigt auch die
Jazz-Affinität der Band, die sie schon früh von den Yardbirds oder
Paul Butterfield unterschied. Die beiden größten Hits der ersten
Ära, ‚Do Wah Diddy‘ und ‚5-4-3-2-1‘ fehlen zwar auf den BBC-Sessions
– dafür gibt es ein paar (kurze) Interviews, und eine Handvoll
Songs sind mehrfach zu hören. Dank der ausgeprägten
Improvisationsfreude der Musiker macht es aber jede Menge Spaß, die
teils sehr unterschiedlichen Takes zu vergleichen. Da sämtliche
Songs von Transcription Discs stammen, ist die Soundqualität
durchweg exzellent.
Das zweite Set trägt den Untertitel
„The Mike D’Abo Era“ und sammelt die Aufnahmen der zweiten
Ära nach Abgang von Paul Jones. Ohne den R’n’B-Fan Jones verwandelte
sich die Band im Sog der Swingin‘ Sixties in eine reine Pop-Band,
wenn auch mit recht experimentierfreudigen Arangements. – wie das
aber damals so üblich war. Für ein schmieriges ‚Hoochie Coochie
Man‘ war immer noch Zeit, aber hauptsächlich dominieren hier die
Radiohits wie ‚My Name Is Jack‘, ‚Fox On The Run‘, ‚Semi-Detached
Suburban Mr James‘, Ha Ha Said The Clown‘ oder natürlich ‚Mighty
Quinn‘ – eins von vielen Dylan-Stücken, die Mann zum Hit machte.
Speziell auf CD 2 beginnt man aber deutlich zu hören, dass die Band
sich immer mehr zum Jazz und zum Progressiven hingezogen fühlte, so
gibt es beispielsweise Elvis Presleys ‚Fever‘ in einer schleppenden
Version, die klingt, als hätten die Moody Blues mit den frühen King
Crimson eine Jamsession abgehalten. Auch hier ist die Qualität
durchweg exzellent, nur die letzten vier Songs von Disc 2 können
nicht mithalten und haben eher durchschnittliches Bootleg-Niveau –
besonders schade, weil gerade da die Transition zur
Fusion-Jazzrock-Band besonders deutlich wird.
Die Soundqualität von Set Drei ist
leider über weite Strecken nur für harte Fans geeignet. Das ist
besonders schade, da die darauf enthaltene, unter dem Namen Manfred
Mann Chapter Three formierende Besetzung so etwas wie das „Dark
Horse“ unter Manns Projekten darstellte. Von der ersten
Besetzung war nur noch Drummer Mike Hugg übrig, und Chapter Three
war eine pure progressive Jazzrock-Band. Zwar gab es in Songs wie
‚Sometimes‘ immer noch eine Menge Anleihen an den damals aktuellen
Psychedelic Pop und den frühen Progressive Rock, aber das Feeling
war ganz klar Jazz, durch die dominanten Bläserarrangements nochmals
verstärkt. Die ersten paar Songs, für die BBC aufgenommen und die
Studio-Outtakes klingen dabei exzellent, für das scheppernde „Bluesy
Susie‘, eine fürs australische Radio aufgenommene Jam mit
Interviewfetzen, braucht man hingegen schon gute Ohren, um die
musikalischen Details wahrzunehmen. Schade besonders, weil viel des
Materials von Chapter Three an Colosseum und Frank Zappas „Hot
Rats“-/The Grand Wazoo“-Ära erinnert – wenn freilich auch
weniger komplex als Letzterer. Auch der Soundtrack zu Jess Francos
Softporno „Venus In Furs“, der den Großteil von CD 2
einnimmt, enthält lediglich die Film-Soundspur, aus der die Dialoge
herausgeschnitten wurden und ist soundtechnisch nur für harte Fans
zu empfehlen. Ein paar Werbejingles für Michelin und Maxwell-Kaffee
sowie Outtakes vom nie erschienen dritten Album der Band sorgen aber
dank ihrer guten Qualität wieder für Versöhnung.
Nachdem sich auch noch Mike Hugg
musikalisch von ihm trennte, nahm Mann einen Schnitt vor. Mit der
Gründung von Manfred Mann’s Earth Band schwor er (zunächst)
sämtlichen Kompromissen ab und konzipierte das Projekt von
vornherein als Live-Einheit. Mit Mick Rogers (gtr), Colin Pattenden
(bs) und Drummer Chris Slade (später bei Uriah Heep und AC/DC) hatte
er sich drei ebenso improvisationsfreudige Kollegen an Bord geholt,
und wie großartig die Formation live klang, ist auch auf der ersten
CD nachzuhören. Drei Livesongs von 1971 und vor allem die fünf
Stücke von 1973, aufgenommen kurz vor Veröffentlichung des
Klasikers „Solar Fire“, sollten jedem Earth Band-Fan die
Freudentränen in die Augen treiben, vor allem, weil die Qualität in
der Tat noch besser ist als die der bekannten Bootleg-Versionen. Die
Achtzehn-Minuten-Version von ‚Father Of Day, Father Of Night‘, mit
Auszügen aus ‚Captain Bobby Stout‘ und ‚Glorified Magnified‘
verziert, und das krachende Titelstück von „Messin'“,
(ehedem einer der unterschätztesten Songs der Band) zeigen die Band
kraftvoll, schweinetight und improvisationsfreudig. Da macht es auch
wenig, das die zweite Disc nach den guten ersten drei Songs eine
relativ schwache Soundqualität hat – die 77 Minuten der ersten CD
machen die Ausgabe schon zum Pflichtkauf für alle Interessierten.
Unterm Strich also eine für alle
Mann-Fans lohnende Zusammenstellung, die einen beinahe lückenlosen
Überblick über die musikalische Entwicklung eines der kreativsten
Musiker des letzten Jahrtausends bietet, auch wenn die (vermutlich
von Kassetten stammenden) Off-Air-Mitschnitte natürlich
soundtechnisch abfallen. Da die Originalmasters unwiederbringlich
verloren sind, wird es mit Sicherheit auch nicht in ein paar Jahren
ein „Upgrade“ geben – somit bietet „Radio Days“
in allen vier Ausgaben Rares, das Mann-Fans viele Stunden Freude
bereiten wird.