Kategorie: reviewsoundtrack

The Dirt

Dass Mötley Crüe ihre mit markigen Worten unterstützte Auflösung nicht durchhalten würden, war so klar wie, nun ja, etwas in der Tat ziemlich Klares. Dass zur Verfilmung der Bandbiografie „The Dirt“ auf Netflix ein Soundtrackalbum erscheinen würde, war ebenso klar. Dass die Band aber schon drei Jahre nach der „unwiderruflichen, absolut endgültigen, legal bindenden“ Trennung ins Studio geht, um für besagten Soundtrack neue Songs aufzunehmen, kommt dann doch etwas überraschend.

Die schlechte Nachricht vorweg: als Soundtrack-Album funktioniert „The Dirt“ leider nicht so wirklich. Da die Musik der Band in der Netflix-Verfilmung (wie im Buch auch) nur eine Nebenrolle spielt, gibt es kaum Songs, die untrennbar mit spezifischen Filmsequenzen verbunden wären, und vom atmosphärischen Score des Films gibt’s auch nichts zu hören, genausowenig wie von den Songs anderer Interpreten, die im Film zu hören sind. Im Prinzip bleibt „The Dirt“ also eine weitere Mötley-Best-Of mit Lücken – da sie nicht im Film vorkommen, fehlen beispielsweise mit ‚Smokin‘ In The Boys‘ Room‘ und ‚Wild Side‘ zwei der bekanntesten und wichtigsten Songs der Band, und obwohl die Corabi-Ära im Film angerissen wird, gibt’s auch davon nichts zu hören. Wenn „The Dirt“ aber sowohl als Soundtrack als auch als Compilation nicht so richtig funktioniert, bleiben ja noch die vier neuen Songs als Kaufanreiz, richtig?

Fans müssen nun aber erst einmal schlucken, dass die vier Songs nicht sonderlich nach Mötley Crüe klingen, sondern eher nach von Vince Neil eingesungenen Sixx A.M.-Songs. Wer auf eine Fortführung des „Saints Of Los Angeles“-Albums gehofft hatte, wird hiervon tierisch enttäuscht sein. Ob hier Mick Mars tatsächlich Gitarre spielt, ist äußerst fraglich, von seinem eigenwilligen und eigentlich unverkennbaren Stil ist hier nämlich nur wenig zu hören. Ehedem wurden die Gitarren soundtechnisch in die zweite Reihe verbannt – schließlich gibt’s auf ‚Crash’n’Burn‘, ‚Ride With The Devil‘, ‚The Dirt‘ und ‚Like A Virgin‘ modernen Radiorock zu hören, aufgehübscht und glattgebügelt mit Loops, Synthies, Vocoder und viel Autotune. Den großkotzig-arroganten Glam-Metal, den man als Crüester eigentlich haben will, bleiben die vier neuen Songs schuldig, und im Direktvergleich zu den anderen auf dem Album enthaltenen Songs, beispielsweise ‚Live Wire‘, ‚Kickstart My Heart‘ oder ‚Shout At The Devil‘, wird auch deutlich, dass die neuen Songs auch qualitativ nicht mit den Klassikern mithalten können.

Der Titelsong ‚The Dirt‘ hat eine nette Hookline und klingt insgesamt noch am Meisten nach „echten“ Mötley Crüe, ist aber leider ziemlich dreist von diversen Kollegen abgekupfert. Die Refrain-Akkordfolge stammt von Bon Jovis ‚Lay Your Hands On Me‘, und ich komm‘ nun schon seit Wochen nicht drauf, wo die dazugehörige Gesangslinie hergemopst ist. Auch die Integration des „Gesangs“ von Hip-Hop-Musiker Machine Gun Kelly gelingt nicht so richtig – vielleicht hätte man ihn einfach einen Rap beisteuern lassen sollen? Singen kann er nämlich nicht wirklich.Und ja, ‚Like A Virgin‘ ist tatsächlich der Madonna-Song. Im Gegensatz zu der genialen Version von H2O versemmeln The Crüe (oder wer auch immer hierauf tatsächlich spielt) den Song aber komplett und bauen ihn zu einem auf größtmögliche Radiokompatibilität getrimmten Pseudo-Rocker mit Alternative-Touch um. Da aber weder die Gesangslinie zum Arrangement passt noch zu Vince Neil und leider auch keinerlei Augenzwinkern erkennbar ist, bleibt hier nur wirklich nur noch Fremdschämen – speziell, da die Band eine Reihe an großartiger Coverversionen von ‚Helter Skelter‘ bis ‚White Punks On Dope‘ in ihrer Vita hat. Auch beiden anderen Songs bleiben brave, kantenfreie und letztlich belanglose Fingerübungen, die sich Sixx vermutlich zwischen zwei Tassen Kaffee aus dem Ärmel geschüttelt hat. Jeder, der eine Entschuldigung für diese Songs vorbringt, hat auf Lebenszeit jegliches Kritikrecht an den im Vergleich dazu als höchst authentische Underground-Rock’n’Roller durchgehenden Nickelback verloren.

„The Dirt“, das Album, ist also nichts Halbes und nichts Ganzes. Die Klassiker sind natürlich diskussionsfrei ganz großes Kino, aber eben auch schon auf diversen umfassenderen Best-Of-Scheiben in ähnlicher Zusammenstellung und zum Midprice zu haben. So bleibt das Album leider nur für Alles-Sammler zu empfehlen – sollte die Band wirklich, wie angekündigt, ein neues Album nachschieben wollen, sei ihnen geraten, etwas mehr Liebe zu investieren. Sonst darf der Fan wohl lediglich mit einem würdigen Nachfolger des „Generation Swine“-Disasters rechnen…

Victoria (Music for the Motion Picture)

Film ab und kein Zurück: Zweieinhalb Stunden Dialoge aus dem Bauch, eine fließende Handlung, gespielt vor offener Linse, und dann ab mit dem ganzen, ungeschnittenen Monstrum ins Kino. Es war ein völlig durchgedrehtes Projekt – im wahrsten Sinne des Wortes: Dreimal haben Sebastian Schipper und sein Filmteam angesetzt, ohne abzusetzen. Dreimal haben sie Laia Costa – sie besetzt die Hauptrolle der jungen und titelgebenden Spanierin ‚Victoria‘ – mit vier Hauptstadtrabauken durch die Berliner Nacht getrieben, raus aus der Afterhour, rein in ein krummes Ding. In dieser Woche läuft ‚Victoria‘ in den Kinos an; den Soundtrack gibt’s am Folgetag im Plattengeschäft zu kaufen.

Warum gerade Nils Frahm mit der Musik zum Film betraut wurde, oder eher: warum Nils Frahm erst jetzt zum Scorer geworden ist, erschließt sich relativ schnell. Die Improvisation ist eines seiner Fachgebiete, das Schnittfreie und Kontinuierliche sein täglich Brot. Revision, Verfeinerung und anderen Nachträglichkeiten verschließt er sein Spiel. Ganz oder gar nicht, keine halben Chancen – das galt für ‚Victoria‘ und alle Kunstformen drum herum. Frahm und seine Gastmusiker spielten an ihm entlang, Rezipienten und Schöpfer zugleich, bewaffnet mit nichts als ihrer Intuition. Cellistin Anne Müller, Violinist Viktor Orri Árnason und Ambient-Artist Erik K. Skodvin (Deaf Center) an der Gitarre stellten sich an ihren Instrumenten derselben Herausforderung wie Schippers Darsteller: An der losen Leine zur Echtheit zu finden. Nichts, worin sie nicht zur Genüge erprobt wären.

Nachdem DJ Kozes ‚Burn With Me‘ noch auf einen arglosen Clubbesuch hindeuten, zieht sich Frahm recht schnell den Techno-Tropf aus der Vene und tut das, was er am besten kann: Subtile Harmonien ertasten. Während sich Victoria und Entourage mit noch sausenden Ohren durchs frühmorgendliche Berlin treiben lassen, balanciert der Pianist die Atmosphäre auf verfilzten Akkorden, hier und da von einem Rauschen, dumpfem Pochen oder scheinbar beiläufigen Geräusch-Artefakten garniert. In klanglicher Hinsicht offenbart sich darin eine enge Verwandtschaft zum erst Ende März veröffentlichten Album ‚Solo‘: Die Stücke suchen sich ihren Weg und die Klaviermechanik liegt bloß. Müllers Cello-Dreingaben führen sie zeitweise aber auch seinem ähnlich geduldigen Label-Bruder Ólafur Arnalds ins Gehege, wenn sie nicht gerade in dronig-düsterem Geköchel zerlaufen.

Die Titel der Stücke (‚A Stolen Car‘, ‚The Bank‘, ‚The Shooting‘) täuschen im Hinblick auf die Action, die ganz den Bildern überantwortet wird, lassen aber vage erahnen, was den Nachtschwärmern widerfahren könnte. Anstatt sich mit ins Getümmel zu stürzen oder wenigstens in der Afterhour zu verweilen, räkelt sich der Soundtrack im sanften Mantel der Morgendämmerung und lässt sich von ihr die Kanten weichzeichnen. Die Euphorie mag von der stillen Sorte, die Dringlichkeit eine verkappte sein; welche Abgründe sich in den Akteuren auftun, beschreibt die Musik dennoch überzeugend im Alleingang.